ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
um die Liebe anderer kämpfte. Ohne sie je zu erlangen. Linus spürte, dass in ihm die Trauer wuchs wie ein sekundenschnell wuchernder Krebs.
Nein!, dachte er. Weiter! Andere Gedanken! Ich will das nicht! Doch es schien, dass seine verzweifelte Abwehr dem Geschwür aus bitteren Gedanken nur noch mehr Nahrung gab. Panik kam in ihm auf. Er wollte nicht all seine Fehler vorgeführt bekommen. Er wollte loslassen. Frei sein. Wollte eins sein mit all dem, was ihn umgab. Ein Teil von allem. Das Zimmer. Die Stadt. Die Welt. Das Universum ... Ja. Und eins auch mit dem, wie er war. Seine guten, seine schlechten Seiten. Er wollte Linus sein. Der allumfassende Linus.
Musik.
Linus hörte auf einmal Musik. Nein. Er hörte sie nicht, sie war in ihm. Er konnte nicht bestimmen, was für ein Instrument da spielte, doch es erfüllte ihn. Wie damals, als er im Inneren der Orgel saß. Ein Lied! Hatte nicht sein Großvater, der Professor, ihm einmal erklärt, dass man „ Universum“ mit „ ein Lied“ übersetzen könne? Er musste nur dem Lied folgen. Der Melodie.
„Ich hab den Rechner.“ Es war Olsens Stimme, die Linus jäh auf seinem Weg stoppte. Es gab keine Chance mehr, der Melodie zu folgen. Das wusste Linus, dazu musste er allein sein. Er öffnete seine Augen. Als er zum Fenster schaute, konnte er sehen, dass sich Eisblumen an der Scheibe gebildet hatten. Seine Augen wanderten zurück in den Raum, zu Olsen. Linus sah, dass er einen Arm in einer Schlinge trug.
„Hier!“ Olsen deutete auf die Tür, durch die Bixby gerade die gesamte Apparatur rollte. Er hatte alles auf einen Rollwagen platziert und die letzten Stunden damit verbracht, herauszufinden, wie Greta es geschafft haben konnte, Maries Erinnerungen anzuzapfen und aufzuzeichnen.
Bixby hatte eine Theorie entwickelt und wollte sie nun ausprobieren. Dass er nicht wirklich sicher war, ob sie funktioniert, hatte er Olsen nicht verraten. Bixby hoffte immer noch, es würde sich die Brain-Cloud mit Edda, Simon und Linus herstellen lassen. Um das zu erreichen, musste er sich beeilen. Er konnte nicht alles durchdenken. Musste riskieren, das Experiment jetzt durchzuführen, auch wenn er die Konsequenzen nicht ganz abschätzen konnte.
„Er hat rausbekommen, wie es funktioniert“, sagte Olsen zu Linus in Vorfreude und deutete auf Bixby. Er half ihm, die Geräte einzuschalten, und wickelte die Drähte der Sensorenhaube ab.
„Bald können wir miteinander reden.“
Gut, dachte Linus, und er dachte, dass er lächelte. Auch wenn es für niemanden sonst zu sehen war. Gut so, wir werden reden. Und ich werde dich um einen letzten Freundschaftsdienst bitten.
Olsen hielt in seinem Schwung inne, als er die Haube auf Linus’ Kopf setzen wollte. Er dachte an den Moment des Trostes vor wenigen Tagen, als er Linus über das Haar gestrichen und sich für den Bruchteil einer Sekunde der Schutzwall vor seiner eigenen Kindheit aufgetan hatte. Aber Olsen konnte sich jetzt nicht mit seiner eigenen Geschichte beschäftigen. Jetzt ging es um Linus. Also redete er einfach weiter, während er Linus mühsam mit einer Hand die Haube aufsetzte.
„Ich hab recherchiert. Wir gehen nach Amsterdam. Dort gibt es die besten Spezialisten für dieses ‚Locked-in‘. Du wirst schon sehen, die kriegen das hin. Und Amsterdam ist eine fantastische Stadt. Ich kenn da ein paar Leute. Wir können auf einem Hausboot wohnen.“
Bixby hörte dem Gerede von Olsen zu. Ihm war klar, dass dieser seltsame Mann dem Jungen Mut machen wollte, und im Grunde konnte das Bixby nur recht sein. Wenn es doch noch gelingen sollte, die Kritische Masse zu etablieren und Edda, Simon und Linus noch einmal zu einer Brain-Cloud zu verbinden, dann war es sicher von Vorteil, wenn Linus nicht ohne Hoffnung war. Der erste Schritt war nun, zu testen, ob und wie genau ein Zugang zu Linus’ Bewusstsein zu finden war. Bixby war genug Wissenschaftler, um zu wissen, dass dieser Zugang reproduzierbar sein musste. Deshalb notierte er jeden seiner Arbeitsschritte.
Nachdem sich Bixby versichert hatte, dass alles korrekt verkabelt war, schaltete er der Reihe nach den Monitor, den Rechner und die zwischengeschaltete Box ein, die die Frequenzen des Gehirns aufzeichnen sollte. Zusammen mit Olsen starrte er gespannt auf den Bildschirm.
Wärme breitete sich unter der Haube aus. Anfangs kaum spürbar. Doch dann empfand Linus immer deutlicher den Anstieg der Temperatur. Wie eine Welle baute sie sich auf. Beginnend von der Stirn bis zum Genick legte
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