ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
sagte sie schließlich so souverän wie möglich.
„Ach so“, sagte er und begriff. „Ich sehe so viele Menschen nackt ... Du hast wirklich einen außergewöhnlich schönen Körper.“
„Kann ich nichts dafür“, sagte Edda.
„Doch. Du bist schön, weil schön ist, wie du empfindest, wie du denkst. Dafür ist jeder Mensch selbst verantwortlich.“
In dem, wie Gopal das sagte, lag nichts Anzügliches. Es war, als habe er einfach ausgedrückt, was er dachte, was er für richtig hielt. Eigentlich war es Edda sogar lieb, wenn Gopal sie sah. In letzter Zeit mochte sie ihren Körper, der durch die Anstrengungen der vergangenen Wochen muskulös geworden war. Einen Augenblick hielt Edda inne. Warum drehten sich ihre Gedanken schon wieder um sie selbst und Gopal? Edda spürte, wie sich ihre kalte Haut unter dem Rubbeln des harten Handtuchs erwärmte. Immer noch ein wenig zitternd, streifte sie schließlich das Oberteil des dunklen Sportanzugs über, auf den eines der Sonnenräder gestickt war. Gopal schaute auf seine Uhr.
„Sehen wir uns in der Küche?“
Damit verließ er die Kleiderkammer.
„Okay“, sagte Edda und zog die Hose des Trainingsanzugs an.
Seit ein paar Tagen half Edda den Köchen in der Kombüse, jeden Tag zweimal 20 Mahlzeiten zuzubereiten. Um acht standen sie auf. Frühstück gab es um zehn. Vorher wollten die meisten Plattformbewohner nicht aufstehen. Sie hatten herausgefunden, dass sie leistungsfähiger waren, wenn sie nicht durch einen Wecker geweckt wurden, und jeder stand auf, wenn er aufwachte. Edda hätte auch mit vier anderen Jugendlichen auf See hinausfahren und fischen können oder in den Serverräumen auf den anderen Plattformen Daten auswerten, doch sie wollte mit den Händen arbeiten und sie mochte keine Tiere töten. Außerdem konnte sie in der Küche mit Gopal zusammen sein.
Am ersten Tag nach der Ankunft hatte sie eine kleine Kabine neben ihm bezogen und war ihm seitdem kaum von der Seite gewichen. Von Anfang an hatte er Edda zu verstehen gegeben, dass er sie besonders und attraktiv fand, und sie hatte wieder begonnen zu träumen. Träume, die ihr positives Gefühl verstärkten und ihr halfen, sich nach der furchtbaren Anstrengung der letzten Wochen zu erholen und die Dinge zu verarbeiten. Gopal war auch ein Träumer. In einem Traum war ihm klar geworden, dass er mit seinen Händen heilen konnte. Seine Träume hatten sich geordnet, genau wie seine Gedanken. Von diesem Augenblick an hatte er seine Berufung gefunden und immer weiter an seinen Fähigkeiten gearbeitet. Edda beneidete ihn um diese Klarheit und Eindeutigkeit. Genau wie sie hatte auch er eine Zeit seines Lebens unter ungewöhnlichen Umständen verbracht und war mit seiner kleinen Schwester und seiner Mutter in den USA in einer Gemeinschaft von Menschen aufgewachsen, die sich darauf konzentriert hatten, Träume und andere Zustände des menschlichen Bewusstseins als die normale Realität zu erforschen. Sie nannten sich „Zauberer“ und trainierten alte indianische Techniken der Realitätsverschiebung. Träumen war für sie ein Mittel der Fortbewegung und sie kommunizierten über Träume wie andere Menschen über ihren Alltag. Sie lernten, sich die Träume bis ins kleinste Detail zu merken, und verabredeten sich in ihren Träumen, um gemeinsame Aktionen durchzuführen. Gopal meinte, durch das Träumen könne man den Tod besiegen. Er erklärte, dass Edda große Begabung zum Träumen besaß. Sie erfuhr, dass ihr Gehirn im Schlaf doppelt so aktiv war wie am Tag und dass es angeblich unmöglich war, von Menschen zu träumen, die man nicht kannte. Gopal bestätigte, was Marie ihr schon als Kind gesagt hatte, dass das Träumen ein Talent war, eine Gabe, die ebenso wichtig sein konnte wie das normale Leben. Doch wie erklärten sich Eddas plötzliche Träume, die seit Maries Erwachen auf der »Shiva« in ihren Nächten auftauchten? Bilder aus Hamburg, von einem Jungen, der sie an Gopal erinnerte, der aber Musiker war. Woher kamen die Fetzen von wilden Konzerten, die Klänge einer Musik, die sie nicht kannte? Und immer wieder das Gefühl, einer großen Bedrohung ausgesetzt zu sein? Bilder, Gefühle, Eindrücke und Gedanken aus der Zeit, als Marie jung gewesen war. So jung wie Edda jetzt. Doch war Marie nirgendwo zu sehen. Es war, als habe Edda in dieser Zeit gelebt, als würde sie in diesen Träumen handeln und erleben, was vor 60 oder 70 Jahren geschehen war.
Edda zog den Reißverschluss des Trainingsanzugs hoch. Endlich war
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