ABATON: Im Bann der Freiheit (German Edition)
ihre Arme massierten, dann ihre Unterschenkel, sie bewegten sich nach oben ...
Schlangen in Indien. Ein kleines Dorf in der Nähe des Ozeans. Hütten und Häuser. Wärme. Frösche, Büffel und kleine Affen. Wenn der Regen aus dem Himmel brach, wenn er Tag und Nacht auf die Häuser fiel, ließen die Tiere die Köpfe hängen und die Schlangen kamen in die Häuser. Schlangen sprachen miteinander. Würde Edda sie jetzt verstehen? So wie Shiva es gekonnt hatte, ihr kleiner, indischer Freund, den sie als Kind so geliebt hatte? Nein, dachte Edda, sie war damals nicht schuld am Tod von Shiva gewesen, als sie in dem Wrack des Busses umzingelt waren von Kobras. Aber Edda hatte Shiva auch nicht vor den Schlangen schützen können. Der Verband, den sie ihm um die Hand gewickelt hatte, die er, um mit Edda zu entkommen, den Schlangen zum Biss angeboten hatte, war nicht dick genug gewesen für die tödlichen Giftzähne der Kobra. Doch von Shiva fiel kein Schatten mehr auf Edda. Weder Innen noch Außen – sie brauchte sich nicht mehr zu verstecken, zu schminken, ihr Gesicht zu verdecken. Kleider zu tragen, die ganz weit weg waren. Von Indien. Von ihrer Mutter. Von den Männern. Dem einen Mann, den sie gehasst hatte, weil er ihr ihre Mutter genommen hatte. Von dem sie gern behauptet hätte, er hätte sie misshandelt, um sich noch mehr als Opfer fühlen zu können. Doch in Wirklichkeit hatte er ihr nichts getan. Ja, in Wirklichkeit war diese Zeit unbedeutend geworden. Was zählte, war, was jetzt war. Den negativen Gedanken und Zweifeln, die sie ihr ganzes Leben auf dem Dachboden ihres Gehirns gehegt hatte, ging die Nahrung aus. „Da war irgendwie ... deine Stimme in meinem Kopf.“ Das hatte Shiva, ihr indischer Freund, damals zu ihr gesagt. Im Moment der größten Angst. „Deine Stimme in meinem Kopf.“ Es war der Tag, an dem Shiva gestorben war – und der Tag, an dem er angefangen hatte, für immer in ihr zu leben.
Edda spürte, wie ihr die Tränen kamen. Tränen der Freude und Tränen wegen der hilflosen Lügen, die sie sich als kleines Mädchen selbst und anderen erzählt hatte. Dass sie die Sprache der Tiere beherrschte, dass ihre Mutter sie einem Mann ausgeliefert hatte, dass Edda der Schlange im Traum befohlen hatte, den Mann zu töten, den ihre Mutter über alles verehrte – für den sie Edda vernachlässigt hatte. Bereits damals waren alle Fähigkeiten in dem kleinen Mädchen angelegt gewesen. Waren ihre Träume Wirklichkeit geworden? Woher hatte sie wissen können, dass sie einmal ohne Worte mit Menschen würde kommunizieren können? Edda lächelte. Ja. Alles war damals schon da gewesen, aber sie hatte lernen müssen, es zu sehen und zu verstehen. Aber warum war es ihr dann unmöglich, Gopal für sich zu gewinnen? Nicht durch Charme und große Schnauze und nicht durch weibliche Intelligenz? Sie wusste einfach nicht, wo er verletzbar war – aber musste sie das wissen? Warum musste man die Schwächen eines Menschen kennen, um sich sicher zu fühlen? Warum war alles Kampf zwischen Mann und Frau? Es fühlte sich gut an, die Macht aufzugeben.
Edda bemerkte nicht, wie plötzlich ein leichter Schimmer den Raum erhellte, wie sich leiser Klang in ihr Atmen mischte, das immer ruhiger und gleichmäßiger wurde, bis sich ihr Körper vollkommen entspannt hatte. Sie atmete leise und gleichmäßig. Ruhig und gelassen. Edda wusste, dass gut war, was geschah, dass sie tief in ihrem Inneren glücklich war, dass sie nichts auf der Welt brauchte als dieses Gefühl, das sie jetzt erfüllte ... und doch war da noch etwas anderes ... etwas, das mit dem Glück kam? Ein Klang, ein Strom der Töne, Frequenzen, die zu Bildern wurden? Ausgelassen stand sie auf einer Bühne mit Gopal.
Mit geschlossenen Augen stand sie dort und folgte dem Fluss der Klänge in ihrem Inneren, den Gopal auf einer Klarinette begleitete. Sie wusste, dass es ihre Stimme war, die die Menschen im Publikum vor der Bühne zu einem wilden ekstatischen Tanz erhob. Einem Tanz im Angesicht ihres Todes, einem Tanz auf dem Vulkan – die Musik dazu kam aus ihrem Mund. „Play with me. For ever and ever.“
Ja, zusammen mit Gopal würde sie unschlagbar sein. Sie waren füreinander bestimmt.
Sie wollte mit ihm schlafen.
Jetzt.
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Olsen fielen die Augen zu. Seit dem Ende der Sitzung mit Bixby und Linus hatte er am Bett des Jungen gewacht, weil er da sein wollte, wenn er aufwachte. Stunden waren vergangen, und Olsen hatte sich nicht getraut, Linus die Haube mit den
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