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Abaton

Abaton

Titel: Abaton Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Jeltsch
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kleine Katharina es immer machte. Da stieg Linus aus und marschierte mit dem Hund zu dem Grünstreifen. Dankbar hob Timber das Bein. Linus wartete geduldig. Eine Streife rollte durch die Straße. Die Polizistin hinter dem Steuer lächelte Linus und dem Hund zu. Dann bog der Wagen in Richtung Zoo ab. Gelassen ließ Linus Timber auf den Rücksitz springen, dann stieg er selbst ein und fuhr weiter.
    [ 1258 ]
    Edda musste etwas tun. Sie hatte nur kurz geschlafen und war kaum wach durchs ganze Haus gerannt, um nach der Großmutter zu suchen. Marie war nicht da. Wo konnte sie sein? Draußen wurde es schon hell und Edda begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Der Wind hatte zugenommen; immer wieder grollte es in der warmen Luft, während von der See erneut ein Gewitter aufzog. Marie war schon öfter länger weg geblieben, ohne es anzukündigen. „Gleiches Recht für alle“, pflegte sie dann zu Edda zu sagen, die auch oft bis spät in die Nacht bei Linda war. Edda nahm sich eine Taschenlampe aus der Küche und stieg erneut auf den Dachboden. Sie sammelte die Unterlagen ein, die sie tags zuvor auf die Truhe gelegt hatte, und nahm alles – die Papiere, Plakate, Fotos und das Tagebuch – mit ins Wohnzimmer.
    Edda schloss die Haustür ab und klappte die Fenster zu.
    Dann holte sie ein Messer aus der Küche, um das zugeklebte Kuvert damit aufzumachen. Ein großes E. stand darauf. Sonst nichts. Edda überlegte, ob sie den Brief öffnen durfte. War mit E. sie gemeint – Edda? Sie wog den Umschlag in ihrer Hand, doch er war so alt, dass das brüchige Papier fast von allein aufriss. Im Inneren befanden sich ein Brief und mehrere Fotos. Edda betrachtete das oberste. Es zeigte ein handbeschriebenes Palmblatt, auf dem das Symbol eines Sonnenrads zu sehen war. Es war die Urform des Sonnenrads, wie Edda es auf Linus’ Fotos aus der Berliner U-Bahn und tausendfach in Indien gesehen hatte.
    Edda entfaltete den mit Schreibmaschine beschriebenen Brief und las:
    Edda,
    achte auf das Zeichen.
    Du bist so viel mehr,
als du denkst.
    M.
    Wer war M? Ihre Mutter oder Marie?
    Ein Schauer lief Edda über den Rücken. Wie hatte der Schreiber dieser Zeilen wissen können, dass Edda auf den Dachboden gehen und den Brief in der Truhe finden würde? Hielt man sie zum Narren? Hatte es etwas mit diesem Furioso zu tun? War es Zauberei oder bloß ein großer Zufall, dass ausgerechnet jetzt dieses Sonnenrad wieder auftauchte?
    Sie sah sich die restlichen Fotos an. Es waren Schwarz-Weiß-Fotos von Marie und diesem Großen Furioso, mal mit und mal ohne Maske. »Photoatelier Hummel, Friedrichstraße« stand am unteren Rand. In dieser Straße war auch der Wintergarten gewesen, in dem Marie aufgetreten war. Und darunter verlief der Tunnel, in dem Edda, Simon und Linus Clint und seinen Männern entkommen waren. Was für ein merkwürdiger Zufall – nur gab es in Wirklichkeit keine Zufälle, dachte Edda. Es gab nur Ereignisse. Ereignisse, die man entweder miteinander in Verbindung bringen konnte oder nicht.
    Edda nahm die Unterlagen und ging damit in ihr Zimmer hinauf.
    Sie räumte die leere Sektflasche und die Gläser weg und legte sich mit dem Tagebuch aufs Bett. Das Gewitter war inzwischen näher gekommen. Edda zählte die Sekunden zwischen Blitz und Donner. 21, 22, 23 ... Pro Sekunde circa 340 Meter. Edda schaute zum Fenster. Sie sah die Wipfel der Bäume, die sich in jede einzelne Böe schmiegten und so dem Angriff des Sturms widerstanden. Wenn es blitzte, hielt sie den Atem an, bis sich die Spannung im Donner entlud. In diesen kurzen Momenten lauschte sie auf die Glasharfe, die während der Gewitter immer eine ganz eigene Melodie zu spielen schien. Wie zur Begrüßung der jungen, wilden Blitze, die vielleicht bald in einem Glasstab weiterleben würden.
    Edda teilte Maries Liebe zu Gewittern. Sie wusste, dass ihrer Großmutter da draußen nichts geschehen konnte. Was man liebte, konnte doch keine Gefahr sein.
    Die Tagebucheinträge reichten von Anfang 1944 bis fast zum Kriegsende im Mai 1945. Marie beschrieb darin ihre Liebe zu einem Mann namens Bernikoff. Edda brauchte nicht lange, um zu verstehen, dass Bernikoff der Große Furioso war. Wenn Marie jetzt Anfang 80 war, dann hätte sie damals erst 16 oder 17 sein können. Nur wenig älter als Edda jetzt. Wer hatte dem jungen Mädchen damals erlaubt, bei einem Magier zu arbeiten? Nachts in einem Kabarett? Anscheinend hatte Marie sogar bei ihm gewohnt. Bei einem erwachsenen Mann. Die flüssig hingeschriebenen

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