Abaton
hast du Timber?“
„Lange Geschichte“, sagte Linus. Ihm kam die Idee, ob Judith auf den Hund aufpassen könnte.
„Klar, wir sind doch eine Zirkusfamilie“, sagte Judith. Dann hockten sie sich auf eine Treppenstufe und Judith zeichnete auf Linus’ Bitte die Tasten der Orgel auf, die sie gespielt hatte, als er im Inneren des Instruments war. Linus hatte vor, irgendwann, wenn er aus Berlin zurück war, dieser Frequenz nachzugehen.
[ 1261 ]
„Rob, wir müssen reden“, sagte Linus, als sein Pflegevater im Talar vom Gottesdienst zurück in sein Büro kam. Perplex blieb Rob in der Tür stehen.
„Ich mache es kurz“, sagte Linus und erklärte, dass er den Rest der Herbstferien bei seinem neuen Freund Thorben in Berlin verbringen würde. Er habe bereits alles organisiert und Rob könne ihn ja jederzeit auf seinem Handy anrufen, fügte er hinzu. Dann marschierte er an dem sprachlosen Rob vorbei, nicht ohne ihn so zu umarmen, wie er Linus immer umarmt hatte, nachdem er ihn getadelt hatte – um den Tadel ein wenig erträglicher zu machen. Und während Rob noch nach Luft schnappte, um Linus aufzuhalten, war der schon samt seinem Rucksack aus dem Haus.
[ 1262 ]
Wasser kochte und Edda bereitete den Chai mit Kardamom und Zimt zu, wie sie es von Marie gelernt hatte. Sie füllte den heißen Trank mit einer Kelle in große Schalen und stellte sie vor ihrer Mutter auf den Tisch.
„Du bist noch schöner geworden“, sagte Eddas Mutter bewundernd. „Ist etwas Besonderes passiert?“
Edda überlegte kurz, ob sie ihr die Geschichte aus Berlin erzählen sollte, doch sie wollte ihre Mutter nicht beunruhigen. Das Kompliment tat gut. Nach Marco. Jetzt, wo sie nicht aufgebrezelt war und kein Make-up trug. Es ließ die schmerzhaften Erinnerungen an Indien und die Sekte verfliegen und legte sich wie Balsam auf die alten Wunden.
Gemeinsam saßen sie auf der breiten Couch und schlürften den süßen Chai. Waren einfach nur Mutter und Tochter. Und waren bei sich. Edda schaute der Mutter zu, erkannte die typischen Gesten wieder. Wie sie bei jedem Trinken zuerst ein wenig pustete; egal ob das Getränk heiß oder kalt war. Wie sie den Finger spreizte, wenn sie trank; wie sie nach jedem Absetzen der Tasse lächelte, als wäre sie stolz auf das Geleistete.
„Ich hatte keine Ahnung, dass du kommst!“, unterbrach Edda das Schweigen.
„Ich hatte gehört, dass du Ferien hast und dachte, da besuch ich dich einfach“, sagte die Mutter fröhlich und so unbeschwert, wie Edda sie seit Langem nicht erlebt hatte.
Edda ertappte sich dabei, wie sie automatisch nach einem Anzeichen für die Krankheit suchte, die ihre Mutter seit Jahren in der Anstalt hielt. Aber ihre Mutter sah besser aus als die vielen Male, als Edda sie besucht hatte.
„Bist du nur heute Nacht hier ...?“, fragte Edda zögerlich.
„Ich bin gekommen, um zu bleiben“, sagte sie und strich Edda sanft über das Haar. „Um bei dir zu bleiben.“
Edda fragte sich, was das bedeuten würde, aber bevor sie dazu kam, darüber nachzudenken, nahm die Mutter ihre Hände.
„Ich bleibe bei dir und du bei mir. Wir machen eine Reise, nicht?“ Auch das war eine Eigenart der Mutter. Schon immer gewesen. Dieses »nicht?« am Schluss, das als schrecklich sanfte Frage getarnt daherkam und dennoch keinen Widerspruch duldete. So war es auch diesmal. Eddas Mutter war mit dem letzten Satz aufgestanden und unterwegs ins Obergeschoss. Vor ihrem Zimmer holte Edda die Mutter ein.
„Was meinst du? Wohin reisen wir?“
„Du versauerst doch hier auf dem Land. Ein Mädchen wie du, in deinem Alter ... das gehört in die große Stadt. Nach Berlin, nicht?“
„Wie? Meinst du für immer?“ Edda fand die Vorstellung der Mutter absurd. „Was wird aus Marie?“
„Meine Mutter konnte schon immer am besten nur für sich selber sorgen. So wie jetzt. Sie hat dich allein gelassen, nicht? Und ja, ich meine, wir beide ziehen nach Berlin.“
Edda stand sprachlos da und war wütend, dass ihre Mutter sie wieder einmal überrumpelt hatte. So wie damals, als es von heut auf morgen nach Indien ging. Edda wollte nicht wütend werden wie damals, nicht verzweifelt. Sie wollte erwachsen reagieren und der Mutter die Absurdität ihres Plans vorführen.
„Und wo sollen wir da wohnen?“
Die Mutter war schon auf dem Weg in Eddas Zimmer. Sie drehte sich zu Edda, lächelte und hatte aus ihrer Tasche einen Schlüssel gefischt, den sie der Tochter hinhielt.
„Marie hat da eine Wohnung. Seit Kriegsende
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