Abbau Ost
Schritte«, von »Annäherung durch Wandel« und einer »Koalition der Vernunft«. Man begegnete sich mit staatsmännischer
Ehrerbietung, man ging sich um den Bart, es gab Schmeicheleien der eitelsten Art und Tränen der Rührung, es gab wodkaduselige
Nächte und einfühlsame »Stasi-Miezen«, man pflegte persönliche Kontakte, man sprach dieselbe Sprache und entdeckte Sympathien
füreinander. Langsam und fast unmerklich festigte sich die Vorstellung von zwei dauerhaft existierenden deutschen Staaten.
Rein menschlich lässt sich das nachvollziehen, doch die Bundesrepublik begriff sich nach wie vor noch als einziger deutscher,
für alle Deutschen in Ost und West zuständiger Staat, der sich wegen der deutschen Teilung überhaupt nur eine vorläufige Verfassung,
das Grundgesetz, gegeben hatte. Dieses Grundgesetz sollte bis zur »Vollendung der Einheit und Freiheit für das gesamte deutsche
Volk« gelten und, wie es im Artikel 146 hieß, seine Gültigkeit an dem Tage verlieren, »an dem eine Verfassung in Kraft tritt,
die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist.« Nach westdeutschem Selbstverständnis war die Bundesrepublik
Deutschland nur eine vorübergehende, aus den widrigen Umständen der deutschen Teilung entsprungene Notlösung. Die |233| ständige Bereitschaft zur Wiedervereinigung war ein Grundpfeiler der westdeutschen Staatsgründung.
Das Grundgesetz hatte sich Ende der 80er Jahre längst überlebt, ohne dass die Bundesrepublik für sich eine neue Selbstbestimmung
vorgenommen hatte. Vor allem zwei Sichtweisen bestimmten die Wahrnehmung. Die eine, von Jahr zu Jahr schwächer werdende und
immer verbissener wirkende Seite meinte, die DDR werde schon bald zusammenbrechen, es sei nur eine Frage der Zeit, dann werde
sich das Problem von allein erledigen. Die andere, ständig an Einfluss gewinnende Seite war überzeugt, die Verhältnisse in
Ostdeutschland seien von Dauer, wenn auch auf einem bedauernswert niedrigen wirtschaftlichen Niveau. Die Anhänger beider Positionen
hatten jeweils auf ihre Weise mit dem Thema Wiedervereinigung abgeschlossen. Keine Seite erkannte einen aktuellen Handlungsbedarf.
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Der talentierte Michail Sergejewitsch Gorbatschow
In den 80er Jahren war die Sowjetunion stark mit sich selbst beschäftigt. Die Russen waren an sich bescheidene Menschen und
schon mit wenig zufrieden, doch die sozialistische Planwirtschaft stellte ihre Leidensfähigkeit auf eine harte Probe. Zu allen
wirtschaftlichen und innenpolitischen Schwierigkeiten kamen auch noch die Probleme mit den Ostblockstaaten, deren wirtschaftliches
Überleben von preisgünstigen Energielieferungen aus der Sowjetunion abhing. Noch bis Anfang der 80er Jahre pumpte die Sowjetunion
mindestens 40 Prozent ihres Erdöls in den Ostblock und das weit unter Weltmarktpreisen. Die Abhängigkeit, in die Moskau die
Ostblockstaaten gedrängt hatte und von der die Russen anfangs profitierten, wurde zunehmend lästig. Nach außen wirkte die
Sowjetunion immer omnipotent. Doch wer, wie viele DDR-Bürger, aus beruflichen Gründen in die »kalte Heimat« reisen musste
und dabei von den offiziell ausgeschilderten Touristenpfaden abkam und in verbotene Zonen gelangte, konnte nur den Kopf schütteln
über das, was er dort zu sehen bekam. In der |234| UdSSR herrschten archaische Zustände, das Sowjetreich war eine totale Absage an arbeitsteilige Prozesse und das gesamte moderne
Industriezeitalter. Es war nur eine Frage der Zeit, bis derartige Zustände die innenpolitische Stabilität erschüttern mussten.
Der letzte sowjetische Parteichef mit der gewohnt langen Amtszeit war Leonid Iljitsch Breschnew. Nach 18 Jahren als Generalsekretär
der Kommunistischen Partei verstarb er am 10. November 1982 im Alter von 75 Jahren. In den letzten Jahren, nach mehreren Schlaganfällen
und Herzinfarkten, war Breschnew nicht nur körperlich, sondern auch geistig nicht mehr auf der Höhe. Mit Juri Wladimirowitsch
Andropow einigte sich die Kommunistische Partei auf einen 68 Jahre alten, ebenfalls gesundheitlich angeschlagenen Nachfolger,
der schon nach fünfzehn Monaten verstarb. Andropow verabschiedete ein Maßnahmenpaket gegen den Alkoholismus. Fortan musste,
wer am Arbeitsplatz trank, strenge Strafen fürchten. Der Verkauf von Alkohol vor 14.00 Uhr wurde verboten. Die Maßnahmen scheiterten
an der allzu nachlässigen Umsetzung. Auch Andropows Nachfolger war lediglich eine
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