Abbau Ost
dreizehnmonatige Amtszeit vergönnt. Konstantin
Ustinowitsch Tschernenko war bei der Machtübernahme bereits 72 Jahre alt und ein schwerkranker Asthmatiker. Am Tag nach seinem
Tod, am 11. März 1985, wählten die sowjetischen Genossen mit dem erst 54 Jahre alten Michail Sergejewitsch Gorbatschow – mit
Ausnahme des über drei Jahrzehnte herrschenden Josef Stalin – den jüngsten Generalsekretär in der Geschichte der KPdSU.
Michail Gorbatschow richtete sich im Kreml ein, doch schon nach kurzer Zeit packte er ein paar Sachen zusammen und reiste
Richtung Westen. Kaum war er angekommen, kannte das Erstaunen keine Grenzen. Dieser Generalsekretär kam im Fernsehen ausgesprochen
gut rüber. Dabei musste er dem Westen den wirtschaftlichen Zusammenbruch des Sowjetreichs eingestehen, er aber nannte es Glasnost
und Perestroika. Es wurde eine der erfolgreichsten PR-Kampagnen des ausgehenden 20. Jahrhunderts. Michail Gorbatschow wurde
im Westen euphorisch gefeiert, alle Welt kannte plötzlich mindestens zwei russische Vokabeln und konnte sie sogar einigermaßen
richtig aussprechen. Wobei das |235| russische Glasnost, wie die westdeutsche Presse berichtet, seinen Ursprung im deutschen Wort Glas habe und soviel wie Durchsichtigkeit,
Transparenz bedeute. Gorbatschow wollte verkaufen, und für die Deutschen hatte er ein ganz besonderes Angebot. Angesichts
der Misswirtschaft wollte die Sowjetunion ihr Erdöl und Erdgas nicht länger für Bezahlware in die Ostblockstaaten liefern,
sondern für eine konvertierbare Währung verkaufen, am liebsten Dollar. Aus Ländern wie Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei,
Bulgarien, Rumänien, Jugoslawien war es relativ leicht, sich zurückzuziehen, doch die DDR, die deutsche Teilung war das ungelöste
Problem der europäischen Nachkriegsordnung. Moskau wollte die Angelegenheit endlich in trockene Tücher bringen, aber die Deutschen
fanden nicht zueinander.
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Waffenbrüder
Die sowjetische Militärdoktrin gründete sich auf die Teilung einer Nation. Ein derart fragwürdiger, auf Dauer nicht haltbarer
Zustand bedurfte ständiger Überwachung. In der DDR arbeiteten vier sowjetische Geheimdienste. Das waren, neben dem Komitee
für Staatssicherheit, dem KGB, die Verwaltung der Sonderabteilung Militärische Abwehr bei der Gruppe der Sowjetischen Streitkräfte
in Deutschland, die Abwehrorgane der Baltischen Flotte und der Militärgeheimdienst GRU. Das Ministerium für Staatssicherheit
musste alle wichtigen Entscheidungen mit dem KGB abstimmen. Die sowjetischen Geheimdienste stellten ständig Überprüfungsanträge
für Mitarbeiter des ostdeutschen Staatssicherheitsdienstes. Die Staatssicherheit erfüllte anstandslos alle Forderungen, überprüfte
bereitwillig die eigenen Mitarbeiter und übermittelte die Ergebnisse an den sowjetischen Geheimdienst.
Das alles spielte sich im Verborgenen ab. Weithin sichtbar waren dagegen die kilometerlangen Garnisonsmauern, Zäune und Stacheldraht,
hinter denen sowjetische Soldaten patrouillierten und hinter die Einheimische kaum einen Blick werfen durften. Nach den Angaben
des Oberkommandos der Gruppe der Sowjetischen |236| Streitkräfte in Deutschland (GSSD) hielten sich in der DDR zum Zeitpunkt der deutschen Einigung 337 000 sowjetische Soldaten
und Offiziere, 44 700 Zivilangestellte und noch einmal 163 700 Familienangehörige auf. Die Nationale Volksarmee (NVA) hatte
nicht einmal halb so viele, insgesamt 155 319 Soldaten und Offiziere unter Waffen. Ob die offiziellen, von sowjetischer Seite
gemeldeten Zahlen tatsächlich der Wahrheit entsprachen, konnte nie überprüft werden. Nicht einmal die ostdeutschen Behörden
konnten mit Sicherheit sagen, wie viele sowjetische Soldaten, Zivilbeschäftigte und Familienangehörige sich in der DDR aufhielten.
Noch 1988, das geht aus Aufzeichnungen des Ministeriums für Nationale Verteidigung hervor, schätzte die Behörde den Personalbestand
in sowjetischen Kasernen anhand des Strom- und Wasserverbrauchs. Auf diese Weise wurden auch Rückschlüsse über Änderungen
der Personalstärke und mögliche Truppenverlagerungen gezogen. Selbst die Bemühungen westlicher Geheimdienste, Aufschluss über
die sowjetische Truppenstärke in Ostdeutschland, deren Ausbildung, Bewaffnung und militärischen Absichten zu erhalten, waren
nie wirklich erfolgreich. Über lange Zeiträume, das gilt heute als gesichert, beherbergte die DDR zumindest 800 000 Menschen
sowjetischer
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