Abbau Ost
DDR-Zeiten, und im ungünstigsten Fall von vier Alteigentümern beansprucht wurde. Immobilienspekulanten
kauften derartige Forderungen, ein ganzes Heer von Rechtsanwälten spezialisierte sich auf Restitutionsfragen und der Deutsche
Bundestag verabschiedete in gewohnter Manier Hunderte Seiten immer neuer Gesetzestexte. Es war kaum zu glauben, wer im Osten
plötzlich alles immobile Besitzungen beanspruchte. Menschen, die in ihrem ganzen Leben noch nie einen Fuß auf ostdeutschen
Boden gesetzt hatten, eröffneten sich ganz überraschend Erbschaften, von denen sie nie zu träumen wagten. Ehemalige DDR-Bürger
profitierten dagegen kaum von der Reprivatisierungsorgie. Enteignungen waren üblicherweise mit Abwanderung oder Flucht verbunden,
die Erben lebten meist im Westen. Millionen Altbundesbürger durchforsteten ihre Familienarchive, wühlten auf Dachböden und
in den alten Koffern, besuchten Verwandte im Altenheim und ließen sich Details von lange verloren geglaubten Besitzungen erläutern
und Vollmachten ausstellen. Im Grunde rekapitulierte jeder noch einmal seine Familiengeschichte, zumindest bis ins dritte
Glied. Möglicherweise gab es im Osten doch noch irgendwo Wurzeln, deren Existenz die Familie verleugnet |71| hatte oder die im Laufe der Jahrzehnte in Vergessenheit geraten waren. Die Frage: Hat die Familie im Osten nicht noch irgendwo
Eigentum?, entwickelte sich im alten Bundesgebiet zu einem Running Gag. In der Folge wurden in den ersten zwei Jahren nach
der Einigung gut 2,17 Millionen Rückübertragungsansprüche gestellt. Von den 18 000 Privatgrundstücken der Stadt Magdeburg
beispielsweise lasteten auf 11 000 Restitutionsansprüche. Die Ämter für offene Vermögensfragen und die Gerichte waren hoffnungslos
überfordert. Im Nachhinein sollte sich herausstellen, dass sich die allermeisten Anträge als unbegründet erwiesen und überhaupt
nur etwa jedem fünften Rückübertragungsanspruch Erfolg beschieden war.
Die Ostdeutschen waren einerseits fasziniert, andererseits abgestoßen von der hektischen Geschäftigkeit, die mit der D-Mark
über sie hereinbrach. Zu diesem Zeitpunkt hatten fast alle noch Arbeit. Doch in den Betrieben gab es kaum noch etwas zu tun,
ostdeutsche Produkte wurden kaum noch nachgefragt. Zum ersten Mal in ihrem Leben hatten ehemalige DDR-Bürger existenzielle
Ängste, zum ersten Mal sorgten sie sich um den Verlust ihres Arbeitsplatzes. Die Rechnungen mussten bezahlt werden. Mit der
westdeutschen Markt- und Sozialordnung fielen die staatlichen Subventionen weg, vor allem für die Miete und Mietnebenkosten,
und auch die westdeutschen Einkommens- und Sozialversicherungssteuern beanspruchten nun einen gehörigen Teil der Einkünfte.
Aber was bedeutete das schon: Zum dritten Mal in einem Jahrhundert war ein deutsches Volk an dem Punkt angelangt, an dem es
sein ganzes bisheriges Leben infrage stellte und bereit war, ganz neu zu beginnen. Und dieses deutsche Volk war friedlich
zu dieser Erkenntnis gelangt und stand nicht vor den Trümmern eines Krieges. Ein solches Maß an Veränderungsbereitschaft,
Duldsamkeit und Verständnis für zwangsläufig mit allen Veränderungsprozessen einhergehende Ungerechtigkeiten würde es in Deutschland
auf absehbare Zeit nicht wieder geben. Die ehemaligen DDR-Bürger besaßen nun sogar ein kleines »Startkapital« von durchschnittlich
einigen tausend D-Mark und ansonsten das monatliche Einkommen aus der Berufstätigkeit. Über nennenswerten |72| Immobilienbesitz, der sich in Zeiten der Währungsumstellung als besonders werthaltig erweist, verfügten die allerwenigsten.
Folglich waren ehemalige DDR-Bürger auch nicht kreditwürdig. Ihr Volkseigentum, das nun zu einem Teil an die Erben der früheren
Eigentümer zurückging und zum anderen Teil von der Treuhandanstalt in großer Eile zum Verkauf ausgeschrieben wurde, konnten
sie folglich nicht erwerben. Die Verkaufsofferten der Treuhandanstalt, so viel stand fest, mussten sich nahezu ausschließlich
an den Westen richten. Jedem, selbstverständlich auch den Ostdeutschen, war klar, dass sie nach der Privatisierung ihres Volksvermögens
kaum mehr besitzen würden, als sie auch vorher schon hatten: ihre Hoffnung und ihre Arbeitskraft.
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Rückgabe vor Entschädigung
Erst im Nachhinein konnten ehemalige DDR-Bürger ermessen, wie in Westdeutschland die Sektkorken geknallt haben mussten, als
die konservative Bundesregierung unter Helmut Kohl der
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