Abbau Ost
ein. Das Bundesfinanzministerium, vertreten durch
die Treuhandanstalt, erließ den Genossenschaften »auf Antrag« einen Teil ihrer Altschulden. Die Gesamtsumme von ursprünglich
acht Milliarden D-Mark, die in den drei Jahren seit der Währungsumstellung durch Zinsforderungen weiter angewachsen war, verringerte
sich um insgesamt 2,8 Milliarden. Da aber selbst das nicht reichte, um das Genossenschaftssterben abzuwenden, drängte der
Fiskus jene Geldhäuser, denen er seine DDR-Staatsbanken verkauft hatte, zu einer Stundung der Restschuld, haftete selbst für
Ausfälle und bürdete sie dem Steuerzahler auf. So kam es 1993, nach drei Jahren der Ungewissheit, zwischen den Agrarbetrieben
und der Bank Aktiengesellschaft Hamm zu einem grotesken Vertragsschluss, der »Rangrücktrittserklärung auf Besserungsschein«.
Mit der Unterzeichnung trat die Bank von ihren ruinösen Forderungen zurück, fortan hatten Investitionen Vorrang vor dem Altschuldendienst.
Zwar waren die Genossenschaften nun wieder kreditwürdig, mussten sich allerdings zur Besserung verpflichten und für den Fall,
dass es zu Ausschüttungen kam, ein Fünftel ihrer Gewinne an die Bank überweisen. Zusätzlich mussten noch Verkaufserlöse aus
Grundstücken und Gebäuden, die von den Unternehmen nicht genutzt wurden, in den Schuldendienst fließen. Auch wenn die Rangrücktrittserklärung
zunächst einmal Rettung bedeutete, so behandelten die Altschuldenbank und die Landwirtschaftsbehörden die Agrarbetriebe von
Stund an, als wären sie potenziell konkursreif, als existierten sie sozusagen nur noch von Staates Gnaden. Alljährlich schickte
die Bank Wirtschaftsprüfer in die Genossenschaften, damit sie die Rechnungsbücher studierten. Dabei mussten die Genossenschaften
nicht nur die horrenden Honorarrechnungen der Wirtschaftsprüfer begleichen, sie zahlten der Bank auch eine jährlich anfallende
Verwaltungskostenpauschale in Höhe von |67| 0,5 Prozent des ursprünglichen, aus DDR-Zeiten überkommenen Altschuldenbetrags.
Mehr als zwölf Jahre wirtschafteten die LPG-Nachfolger unter rigider Bankenaufsicht. Sie bezahlten die Wirtschaftsprüfer,
die ihnen die Bank ins Haus schickte, zahlten die Verwaltungskostenpauschale für einen fiktiven, in Wahrheit nicht mehr vorhandenen
Schuldenbetrag, und für den Fall, dass sie Gewinne ausschütteten, überwiesen sie 20 Prozent auf das Altschuldenkonto. Über
den gesamten Zeitraum hielt sich der Gesamtschuldenberg nahezu unverändert bei einer Höhe von vier Milliarden D-Mark oder
rund zwei Milliarden Euro. Erst Anfang 2004, nach endlosen Debatten, kam der Bundestag zu einer Entscheidung und erließ das
»Gesetz zur teilweisen Tilgung der Altschulden«. Bis zum 31. August 2005 sollten die noch knapp 1300 betroffenen Agrarbetriebe
dem Fiskus ein Ablöseangebot unterbreiten. Für den Fall, dass Betriebe ihre sozialistischen Schulden nicht ablösen wollten,
verschärfte der Gesetzgeber die Rangrücktrittvereinbarung und griff erneut in bestehende Vertragsverhältnisse ein. Fortan
wurden nicht mehr 20 Prozent, sondern 55 Prozent des Gewinns für den Altschuldendienst fällig.
Genau vor diesem Problem standen nun der Geschäftsführer der Agrargenossenschaft Jürgenshagen, die Buchhalterin und der Buchprüfer
vom Genossenschaftsverband. »Allen wurden die Altschulden erlassen«, sagte Michael Constien, »nur wir müssen bezahlen.« Holger
Millahn vom Genossenschaftsverband Norddeutschland nickte ernst. Gabriele Brümmer versuchte die Anspannung mit einem Lächeln
zu überspielen. »Die Betriebe«, fuhr Michael Constien fort, »die relativ gut waren und auch eine entsprechende Prognose auf
den Tisch legen, werden relativ hoch ablösen müssen, während die Betriebe, die durchaus im Laufe der Jahre ihr Eigenkapital
verzehrt haben, sehr gut dabei wegkommen.« Die Agrargenossenschaft Jürgenshagen hatte gut gewirtschaftet. Insgesamt 40 Mitarbeiter
und noch einmal 6 Lehrlinge bewirtschafteten 2700 Hektar Land, zum Unternehmen gehörten 2700 Rinder, deren Haltung die gesamte
Wertschöpfungskette umfasste, von der Mutterkuhhaltung über die Milchproduktion |68| bis zur Mast der männlichen Tiere. Die Agrargenossenschaft Jürgenshagen gehörte zu den leistungsfähigsten Landwirtschaftsbetrieben
in Westeuropa, und die wirtschaftliche Situation hätte noch besser sein können, wären da nicht die Altschulden aus jener Zeit,
als die LPG noch der gesellschaftliche Mittelpunkt
Weitere Kostenlose Bücher