Abbau Ost
begannen vor 16 Jahren, an jenem denkwürdigen 1. Juli des Jahres 1990. Die Freude an der Währungsumstellung war
nicht ungetrübt. So herrliche Perspektiven sich für den privaten Konsum auftaten, so schwierig stellte sich die finanzielle
Situation der Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft Jürgenshagen dar. Die Geschäftsführung sah sich plötzlich mit
Schulden konfrontiert, die vor der Währungsumstellung kaum Probleme bereiteten, das Unternehmen jetzt aber in den Ruin treiben
konnten. Die LPG hatte mit diesen sozialistischen Schulden den Bau von Arztpraxen, Dorfstraßen und sogar einen Parkplatz vor
dem Schloss der nahen Kreisstadt Bützow finanziert. Beim überwiegenden Teil der Schulden handelte es sich allerdings um sogenannte
Meliorationskredite, um Investitionen zur Trockenlegung von Mooren und Feuchtwiesen, deren aufwendige und wenig Ertrag versprechende
Bewirtschaftung sich wohl zu DDR-Zeiten lohnte, nicht aber unter den aktuellen Marktbedingungen. Gewährt hatte die Kredite
der sozialistische Staat, der in zentralistischer Leitung die Planziele vorgegeben hatte und den Geldumlauf steuerte. Plötzlich
aber hatte es die Genossenschaft nicht mehr mit staatlichen, sozusagen als verlängertem Arm der Partei und Staatsführung fungierenden
Banken zu tun, jetzt präsentierten sich privatwirtschaftliche Kreditinstitute als Gläubiger. Die zu DDR-Zeiten für die Landwirtschaft
zuständige Bank für Land und Nahrungsgüterwirtschaft (BLN) und die Bäuerliche Handelsgenossenschaft (BHG) waren samt ihrer
sozialistischen Forderungen an die damalige DG-Bank (Deutsche Genossenschaftsbank) in Frankfurt am Main und an die Volks-
und Raiffeisenbanken gegangen, und die wiederum hatten ihre Schuldforderungen an die BAG, die Bank Aktiengesellschaft in Hamm
übertragen. Verbunden mit dem Gläubigerwechsel war die einseitige Erhöhung der Kreditzinsen von durchschnittlich 1,8 Prozent
auf über 10 Prozent. |65| Entweder die Agrarbetriebe zahlten oder ihnen drohte ein Konkursverfahren.
Es gab viel Aufregung zu Beginn der 90er Jahre, doch in Jürgenshagen, dem kleinen Dorf nahe der A 20, etwa auf halber Strecke
zwischen Wismar und Rostock, bewahrte man die Ruhe. Wie jedes Jahr war auch im Einigungssommer des Jahres 1990 eine Ernte
herangereift und die Genossenschaft Jürgenshagen hatte in D-Mark-Zeiten geerntet, was zu Ost-Mark-Bedingungen gesät wurde.
Im kommenden Jahr würde es eine neue Ernte geben. Im Übrigen hatte niemand geglaubt, dass die wirtschaftliche Umgestaltung
reibungslos vonstatten gehen würde. Und der Agrarbetrieb Jürgenshagen stand nicht allein mit seinem Altschuldenproblem. Etwa
zwei Drittel aller ostdeutschen Genossenschaften hatten sozialistische Schulden, insgesamt rund acht Milliarden D-Mark. Irgendeine
Lösung würde sich schon finden. Dem wiedervereinigten Deutschland konnte unmöglich an der Pleite von mehr als zweieinhalbtausend
Landwirtschaftsbetrieben gelegen sein.
Die Hoffnungen erwiesen sich als unbegründet. Die neue, jetzt gesamtdeutsche Regierung schien kaum Wert auf die fortschrittlichen
ostdeutschen Agrarstrukturen zu legen und begünstigte sogenannte Wiedereinrichter, die Ansiedlung bäuerlicher Familienbetriebe.
Nicht nur, dass staatliche Behörden die Rückkehr zur, wie Karl Marx es einmal ausdrückte, »Idiotie des Landlebens« propagierten,
Genossenschaften waren ständigen Anfeindungen ausgesetzt. Frühere LPG-Vorsitzende und jetzige Geschäftsführer wurden als »Rote
Barone« beschimpft. Dazu kamen die Auseinandersetzungen um das Bodenreformland. Obwohl es anfangs hieß, die unter sowjetischer
Besatzungszeit durchgeführte Enteignung und Neuaufteilung von Großgrundbesitz solle nicht angetastet werden, torpedierten
sogenannte Alteigentümer, deren Nachfahren und ein Aufgebot erfindungsreicher Juristen die unter sowjetischer Besatzung geschaffenen
Tatsachen. Selbst der Verkauf und die Verpachtung staatlichen Ackerlandes, über das der Bund und sein verlängerter Arm, die
Boden-Verwaltungs- und -Verwertungsgesellschaft (BVVG) verfügte, waren ein ständiges Ärgernis.
|66| Lange Zeit standen die Zeichen nicht gut. Bei Hunderten ostdeutschen Agrarbetrieben brach die Panik aus. Die Genossenschaftsmitglieder
liquidierten ihre Unternehmen. Dann aber, als es viele Landwirtschaftsgenossenschaften schon nicht mehr gab und das Massensterben
ostdeutscher Agrarbetriebe beängstigende Ausmaße annahm, lenkte der Staat
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