Abbild des Todes
kurz nachdem er mitgeteilt hatte, dass er nun der Boss der Familie sei. Hysterisch vor Angst, dass es ihren Mann als Nächstes treffen könnte, hatte Stephanie ihm ein letztes Ultimatum gestellt: Wenn er die Bande nicht verließe, würde sie die Scheidung einreichen. Sie zog es vor, ihn zu verlassen, als zuzusehen, wie er vor ihrem Haus erschossen wurde, wie es Ricco passiert war.
Da Tony sie als eine liebende Frau kannte, die niemals zugelassen hätte, dass die Familie auseinanderbrach, dachte er, dass ihre Drohung genau das war – nur eine Drohung. Er hätte sich nicht mehr irren können. Noch am gleichen Tag suchte Stephanie einen Anwalt auf, und drei Monate später zog sie mit Angie nach New York, änderte ihre Namen und warf nie mehr einen Blick zurück.
Kurz nachdem er seine Familie verloren hatte, wurde Tony ebenfalls verhaftet. Zur Überraschung aller bot er sich als Zeuge des Staates an, allerdings unter der Voraussetzung, dass er Immunität erhalten und ein neues Leben unter dem Zeugenschutzprogramm beginnen könne. Viele seiner Freunde aus dem Syndikat hielten ihn für verrückt. Sie warnten ihn, dass er damit niemals durchkommen würde. Frank würde ihn finden und umbringen lassen.
Doch das war Tony egal. Er war so verzweifelt über den Verlust von Frau und Tochter, dass es ihn nicht kümmerte, ob er lebte oder starb.
Als er nach seiner Aussage aus dem Gerichtsgebäude eskortiert wurde, fuhr eine verdunkelte Limousine vorbei und schickte eine Salve Gewehrkugeln in Tonys Richtung. Obwohl schwer verletzt, überlebte er den Anschlag. Um ihm Sicherheit zu gewähren, ließ das FBI dennoch verlauten, dass Tony Marcino auf dem Weg ins Krankenhaus an seinen schweren Verletzungen verstorben sei.
Einmal im Krankenhaus, unterzog sich Tony mehreren plastischen Operationen. Sein Kiefer wurde verbreitert, die Nase schmaler gestaltet, die Sommersprossen entfernt, und seine hohe Stirn – bereits in jungen Jahren hatten die Haare bei Tony angefangen auszugehen – wurde mit Haarimplantationen wieder gefüllt.
Die Veränderung war so radikal, dass Tony, der nun offiziell Ray Dougherty hieß, seinen zuständigen FBI-Agenten bat, ihn nach New York umzusiedeln, um in der Nähe seiner Tochter sein zu können.
Agent Fay hatte ihm erklärt, dass es viel zu gefährlich sei, in so unmittelbarer Nähe zu seiner ehemaligen Familie zu leben – für ihn, für seine Frau und für seine Tochter. Stattdessen schickten sie ihn nach San Diego. Einen Monat nach seiner Ankunft in der südkalifornischen Stadt hatte Ray Arbeit als Verkäufer in einem Eisen- und Haushaltswarenladen gefunden. Zu seiner Überraschung mochte er nicht nur den Job, sondern auch seinen Chef. Und als Mel vor zehn Jahren beschlossen hatte, in Rente zu gehen, hatte er Ray angeboten, seinen Laden zu einem derart guten Preis zu übernehmen, dass Ray gar nicht hatte Nein sagen können.
Während der ganzen Jahre lebte Ray sehr zurückgezogen. Sein einziger Freund und auch der Einzige, der seine wahre Identität kannte, war Lou Agnelli, ein Privatdetektiv, den er kurz nach seinem Umzug nach San Diego kennengelernt hatte. Unauffällig hatte er ihm geholfen, seine Frau und Tochter ausfindig zu machen, und über die Jahre hatte er ihn immer wieder mit Berichten, Fotos und neuesten Ereignissen aus ihrem Leben auf dem Laufenden gehalten.
Seine kleine Angie machte sich hervorragend. Natürlich war sie nicht mehr die kleine Angie. Sie war jetzt erwachsen und wunderschön …
Die Türklingel riss ihn aus seinen Gedanken. Das musste Lou sein. Am Bowlingtag war er immer zu früh. Zum einen, weil er durchschnittlich hundertachtzig Punkte erzielte und es kaum abwarten konnte, die Gegner zu schlagen, und zum anderen, weil dieses Hobby gemeinsam mit seinem Beruf ihm half, über den Tod seiner geliebten Frau vor einem Jahr hinwegzukommen. Da Lou im Umgang mit Werkzeug äußerst geschickt war, half er Ray ab und zu im Geschäft, und wenn beide Männer weg waren, so wie heute, ließ Ray den Laden einfach zu.
Jetzt öffnete Ray die Tür. Lou, der ein paar Jahre älter war als er, trug seine einundsechzig Lenze mit Würde. Obwohl einigermaßen attraktiv, hatte er es geschafft, sich so zu geben, so zu kleiden und so zu wirken, dass sich die Leute nicht an ihn erinnerten, was in seinem Beruf ein unschlagbarer Vorteil war. Sollte es jemals jemand für notwendig befinden, ihn zu beschreiben, so könnte er über Lou nicht mehr sagen, als dass er mittelgroß und mittelschwer war und
Weitere Kostenlose Bücher