Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Kälte in der Nacht zuvor. Donnergrollen rollte aus der Ferne heran, erst schwach, dann immer lauter und bedrohlich, und bald hatte das schwere Unwetter ihr Nachtlager erreicht. Das Krachen der Blitze übertönte lange das heftige Trommeln der Regenfluten.
An Schlaf war nicht zu denken. Abby und Rachel schmiegten sich aneinander und teilten sich den spärlichen Schutz von Abbys Umhang, so gut es ging. Die meisten anderen waren nicht so glücklich dran. Dünne, verschlissene Kleider umschlotterten ihren unterernährten Körper. Und richtiges Schuhwerk besaßen die wenigsten. Und so kauerten sie in der regennassen Dunkelheit, zitterten wie Espenlaub und hofften vergeblich auf ein schnelles Ende des Regens.
Als der Tag anbrach, regnete es noch immer, wenn auch nicht mehr so heftig. Mit quälender Langsamkeit zog der Wagentross weiter.
»Wir kommen nie in Portsmouth an! Diese Henkersknechte wollen, dass wir schon auf den Weg dorthin krepieren!«, krächzte Tilly, die schon am ersten Tag prophezeit hatte, dass die wenigsten von ihnen das Schiff erreichen würden.
An diesem Tag war Abby fast geneigt, dieser düsteren Voraussage Glauben zu schenken. Ein ständiges Schniefen und Husten erfüllte den Gefangenenwagen. Und das Baby, das die Tage zuvor noch kräftig geschrien hatte, schien jetzt viel zu schwach, um mehr als ein leises Wimmern von sich zu geben.
»Nimm Stroh und reib damit Arme und Beine, bis sie brennen!«, riet Rachel. »Das hält warm. Eine Hand voll trockenes Stroh wäre am besten, aber davon wirst du hier nicht einen einzigen Halm mehr finden. Doch es hilft auch so.«
Abby befolgte den Ratschlag und scheuerte das nasse Stroh so lange über Beine und Arme, bis ihr die Muskeln den Dienst versagten. Es half tatsächlich ein wenig, doch es raubte auch viel Kraft, sodass Abby sich im Stillen fragte, ob das nicht den Teufel mit dem Beelzebub austreiben war.
An diesem dritten Tag bewegte sich die lange Kolonne noch langsamer vorwärts, als es an den beiden Tagen zuvor schon der Fall gewesen war. Sie merkten es am Klang der Räder, die sich viel schwerfälliger zu drehen schienen, und am zögernden Hufschlag der berittenen Wachen. Und es gab immer wieder lange Pausen, in denen die Wagen zum Stillstand kamen. Dann hörten sie wütende Stimmen. Einmal wurde gereizt nach dem Schmied gerufen, und ein anderes Mal warteten sie gut eine Stunde, bis sie dann über eine Brücke rumpelten. Jedes Mal schien es ewig zu dauern, bis sich die Wagenkolonne endlich wieder in Bewegung setzte.
»Es ist der Regen«, mutmaßte Rachel. »Es muss so schlimm gegossen haben, dass auf der Straße kein Vorankommen ist. Bestimmt ist der Boden so aufgeweicht, dass man knöcheltief darin versinkt. Und mit der Brücke vorhin war auch irgendwas. So ein Regenguss kann einen ruhigen Bach in ein reißendes Gewässer verwandeln, das Brückenpfeiler knickt wie Fidibusse. Das wird es wohl gewesen sein.«
»Wenn wir doch nur erst in Portsmouth wären«, stöhnte Abby auf. »Feuchter, enger und stinkiger als hier kann es auf dem Schiff gar nicht sein.«
»Hoffen wir, dass du Recht hast. Doch einen Penny darauf verwetten würde ich nicht«, brummte Rachel. »Trauen tue ich nur meinen eigenen Augen und Ohren – und meinem Magen.«
»Es kann gar nicht schlimmer sein als hier!«, behauptete Abby, die sich an diese Hoffnung klammerte und Kraft daraus schöpfte.
»Es gibt nichts, was nicht noch schlimmer werden könnte«, antwortete Rachel ungerührt.
»Wie können sie uns denn noch schlimmer behandeln, als sie es jetzt schon tun?«, wandte Abby protestierend ein. »Sie können einfach nicht!« Es war weniger Überzeugung als Hoffen, was sie zu diesem beschwörenden Einwand veranlasste.
Doch Rachel lachte nur bitter auf. »Von wegen! Ist dir noch immer nicht aufgegangen, dass der Mensch die grausamste Kreatur auf Erden ist? Kein Tier tut seinem ärgsten Feind das an, was der Mensch mit seinesgleichen treibt, Abby. Und wenn es darum geht, einen Menschen zu quälen und zu erniedrigen, ist die Phantasie der Menschen grenzenlos … grenzenlos grausam und mitleidlos!«, stieß Rachel mit einem Kratzen in der Stimme hervor.
Abby wusste dem nichts entgegenzusetzen, weil es die Wahrheit war. Doch Hoffen, das konnte ihr keiner nehmen, und die Hoffnung wollte sie nie aufgeben!
Vermutlich wäre Rachel mit einer leichten Erkältung davongekommen, wenn das hintere rechte Wagenrad noch bis Portsmouth gehalten hätte. Doch das Schicksal wollte es nicht so.
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