Abby Lyne 01 - Verbannt ans Ende der Welt
Schiffe nicht von hier aus in aller Herren Länder schickte.
Ein Meer von Masten hob sich in den Himmel, wohin sie auch blickte. Schiffe über Schiffe drängten sich an den Kais vor den Lagerhallen und Kontoren. Zwischen den kanonenbestückten Kriegsschiffen der königlichen Marine und den Handelsfahrern wimmelte es nur so von kleinen Schaluppen, schnittigen Schonern, bauchigen Lastkähnen und Ruderbooten, die in diesem scheinbaren Irrgarten das blaugrüne Wasser der weiten Bucht in allen Richtungen durchpflügten. Eine Fregatte hielt gerade mit windgeblähten Segeln und rauschender Bugwelle auf die offene See zu, während ein schlanker Dreimaster auf Gegenkurs gegen den Wind ankreuzte und sich langsam dem Hafen näherte. Auf einem anderen Segler wurden gerade die Anker gelichtet und die Leinen losgeworfen, während ein Teil der Mannschaft die Wanten enterte. Laut schallten die Kommandos der Bootsleute über das Wasser und wurden an den Kais von den Zurufen der Schauerleute übertönt, die eine Flut von Fässern, Säcken und Kisten aus den tiefen dunklen Bäuchen der Handelsschiffe holten oder dort verstauten. Ein nicht enden wollender Strom von Fuhrwerken sorgte auf den Kais für den Transport der vielfältigen Waren.
Abby wurde aus ihrem gedankenversunkenen Staunen gerissen, als die Schlange der wartenden Sträflinge vorwärts rückte und Rachel plötzlich strauchelte. Fast wäre sie gestürzt, wenn Abby sie nicht geistesgegenwärtig am Arm gepackt und festgehalten hätte.
»Rachel! Mein Gott, was ist?«, stieß sie erschrocken hervor, als sie sah, wie zittrig ihre Freundin auf den Beinen war.
»Ich … ich hab wohl nicht aufgepasst«, murmelte Rachel und fuhr sich fahrig über das schweißnasse Gesicht.
»Du hast Fieber!«
»Ach, was! Ein kleiner Schwächeanfall, weiter nichts!«, wehrte Rachel gereizt ab. »Ich bin die frische Luft wohl nicht mehr gewöhnt.«
Es war mehr als ein kleiner Schwächeanfall, das wusste Rachel so gut wie Abby. Aber sie weigerte sich, das einzugestehen, als könnte sie dadurch die Krankheit unter Kontrolle halten. Doch ihr Wille war längst nicht mehr so stark wie die Schwäche, die ihren Körper befallen hatte. Als ihnen die Fußeisen mit der schweren Kette abgenommen wurden und sie an der Reihe waren, in eines der Ruderboote zu steigen, musste Abby sie stützen, sonst wäre sie erneut gestürzt.
Die Matrosen trieben das Langboot mit kräftigem, gleichmäßigem Riemenschlag über die Bucht. Wenig später wölbte sich die Bordwand des Ostindienfahrers wie der mächtige Rumpf eines aus dem Wasser ragenden Wales über ihnen in den Himmel. Wie Lanzen ohne Ende reckten sich die Masten empor und schienen die wenigen hoch dahinziehenden Wolken aufspießen zu wollen. Kent hieß der Dreimaster, der sie nach Australien bringen sollte, Sirius und Calcutta die beiden anderen der Sträflingsflotte.
An Bord des Schiffes zu klettern, kostete Rachel alle Kraft und Willensanstrengung, zu der sie noch fähig war. Abby musste sie fast den schmalen, steilen Niedergang hinuntertragen, der zu den Sträflingsunterkünften unter Deck führte.
Zimmerleute hatten einen Teil des Laderaums abgetrennt, massive Zwischenwände eingezogen, ein schweres Gitter zum Treppenaufgang hin eingesetzt und den lukenlosen Raum mit schmalen Bretternischen, jeweils immer drei übereinander, ausgefüllt. An die zweihundert Deportierte sollten hier eingepfercht werden.
Zwischen den Reihen schmaler Bettstellen gab es einen nicht minder schmalen Gang, den zwei Sträflinge auf einmal nicht passieren konnten, wenn sie sich nicht aneinander vorbeizwängten . Nur an einer Stelle, und zwar genau in der Mitte der Sträflingsunterkunft, öffnete sich der Gang zu einem freien Raum, der etwa fünf Schritte in Quadrat maß. Dort stand in der Mitte ein gemauerter Herd, auf dem Wasser für Tee erhitzt werden konnte. Diese primitive Kochgelegenheit durfte während der Reise jedoch nur bei gutem Wetter benutzt werden.
Bei rauem Seegang, wenn das Schiff rollte und schlingerte, war offenes Feuer an Bord eines Segelschiffes verboten.
»Im Armensarg haste mehr Platz«, hörte Abby jemanden sagen, als sie Rachel den Gang entlangschleppte und nach zwei freien Bettstellen Ausschau hielt. Das einzige Licht kam von einer Laterne, die neben der Kochstelle von einem Balken hing.
Darunter stand ein schweres Fass, aus dem sich die Gefangenen mit ihrem Blechnapf Trinkwasser schöpfen konnten. Solange das Schiff im Hafen lag, gab es zumindest daran
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