Abendruh: Thriller (German Edition)
Zimmer von Will und Teddy.
»Ich kapier’s nicht«, sagte er und betrachtete nachdenklich die leeren Betten. »Die Jungen waren beide hier drin, und sie hatten schon ihren Schlafanzug an.«
»Sie haben nichts davon gesagt, dass sie noch einmal vor die Tür gehen wollten?«
»Sie wissen , dass sie heute Nacht im Haus bleiben sollen. Gerade heute Nacht.« Julian machte auf dem Absatz kehrt und lief weiter den Flur hinunter. Maura und Sansone folgten ihm in Claires Zimmer, wo sie alle innehielten und die Bücher anstarrten, die kreuz und quer über den Schreibtisch verteilt waren, das Sweatshirt und die Socken, die auf einem Haufen in der Ecke lagen. Nichts, was zur Besorgnis Anlass gegeben hätte – nur das typische Chaos eines Teenager-Zimmers. »Warum sollten sie abhauen? – Das ergibt doch keinen Sinn«, sagte Julian. »Sie sind doch nicht blöd.«
Plötzlich wurde Maura bewusst, wie tief die Stille war. Tief wie die Erde, tief wie das Grab. Falls noch andere Menschenseelen im Schloss waren, konnte sie sie nicht hören. Ihr graute vor dem Gedanken, in jeder Nische und unter jeder Treppe suchen zu müssen, in einer Festung, in die bereits ein Mörder eingedrungen war.
Das Winseln des Hundes schreckte sie auf. Sie sah auf Bear hinab, der ihren Blick erwiderte, als ob er jedes Wort verstünde. »Er kann uns beim Suchen helfen«, sagte sie. »Er muss nur ihre Witterung aufnehmen.«
»Er ist kein Bluthund«, wandte Julian ein.
»Aber er ist ein Hund, und er hat den Geruchssinn eines Hundes. Er kann sie aufspüren, wenn wir ihm klarmachen, wonach wir suchen.« Ihr Blick ging zu dem Haufen Kleider, den Claire in die Ecke geworfen hatte. »Lass ihn mal daran schnuppern«, sagte sie. »Wir wollen sehen, wohin er uns führt.«
Julian zog eine Leine aus der Tasche, befestigte sie an Bears Halsband und führte ihn zu dem Haufen schmutziger Wäsche. »Los, Junge«, ermunterte er den Hund, »nimm eine ordentliche Nase voll. So riecht Claire. Du kennst doch Claire, nicht wahr?« Er nahm den riesigen Kopf des Hundes in beide Hände und sah Bear direkt in die Augen. Die beiden verband eine tiefe, ja geradezu mystische Beziehung, gewachsen in den Bergen von Wyoming, wo Junge und Hund gelernt hatten, sich aufeinander zu verlassen, wo nur das grenzenlose Vertrauen, das sie verband, ihr Überleben gesichert hatte. Maura beobachtete voller Staunen, wie die Augen des Hundes leuchteten, als ob er begriffen hätte, was sie von ihm wollten. Schon lief er zur Tür und begann zu bellen.
»Komm«, sagte Julian, »wir wollen Claire suchen.«
Bear zerrte an der Leine und führte den Jungen aus dem Zimmer. Doch statt zur Haupttreppe lief der Hund den Flur entlang in Richtung des ungenutzten Gebäudeflügels, wo es noch düsterer war, wo offene Türen den Blick in leere Zimmer mit verhüllten Möbeln freigaben. Sie kamen an dem Ölgemälde einer Frau in Rot vorbei, einer Frau, deren Augen Maura mit einem eigenartigen metallischen Glanz anzustarren schienen, als ob irgendein geheimes Wissen sie von innen erhellte.
»Er läuft auf die alte Dienstbotentreppe zu«, sagte Sansone.
Bear blieb stehen und starrte die Treppe hinunter, als überlegte er, ob es klug wäre, sich in diese düsteren Gefilde hinabzuwagen. Er sah sich nach Julian um, der nur nickte. Bear begann die schmalen Stufen hinunterzutappen, und das Klicken seiner Krallen auf dem Holz wirkte in der Stille unverhältnismäßig laut. Im Gegensatz zu dem mit prächtigen Schnitzereien verzierten Geländer an der Haupttreppe gab es hier nur einen schlichten Handlauf aus Eichenholz, im Lauf der Jahrzehnte blank poliert von den Händen zahlreicher Bediensteter, die im Stillen gewirkt und dafür gesorgt hatten, dass das Schloss immer sauber war und die Gäste genug zu essen hatten. Ein kalter Lufthauch schien hier zu wehen, als ob die Geister der längst verstorbenen Hausangestellten noch in diesen Gängen spukten und mit ihren Besen und Frühstückstabletts ruhelos treppauf und treppab huschten. Maura konnte fast spüren, wie einer dieser Geister einer kühlen Brise gleich an ihr vorüberzog, doch als sie sich umblickte, sah sie nur die leeren Stufen, die sich unter ihr im Halbdunkel verloren.
Sie stiegen zwei Treppen hinunter, und immer noch ging es weiter in die Tiefe, bis ins Kellergeschoss hinab. Maura war noch nie hier gewesen, so tief in den Eingeweiden von Abendruh. Diese Stufen schienen ins Innerste des Berges selbst zu führen, eingeschlossen von Fels. Sie konnte es
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