Abendruh: Thriller (German Edition)
Namen rufen, doch sie konnte sich unter dieser Last nicht rühren, konnte nur in die Dunkelheit starren, als Schritte sich näherten. Langsam, bedächtig.
Sie blickte zum Nachthimmel auf. Zu den Sternen – so viele Sterne. Die Milchstraße strahlte so hell, wie sie sie noch nie gesehen hatte.
Die Schritte stoppten. Ein Mann stand vor ihr, seine Augen funkelten in einem schwarz verschmierten Gesicht. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde. Denzels Leiche, aus der das Blut sich über sie ergoss, verriet ihr alles, was sie wissen musste.
Ikarus ist hier.
32
Es war der Hund, der sie warnte. Durch die Tür ihrer Zelle hörte Claire, wie Bear wieder zu heulen begann, so laut, dass es im Weinkeller und auf der Treppe widerhallte. Sie wusste nicht, was ihn aufgeschreckt hatte. Vielleicht begriff er, dass ihre Zeit abgelaufen war, dass der Tod in diesem Moment die Stufen nach unten schritt, um sie zu holen.
»Er kommt zurück«, sagte Claire.
In diesem stickigen Raum konnte sie die Angst riechen, scharf und aufgeladen, wie der Geruch von Tieren, die auf den Schlachter warteten. Will schmiegte sich enger an sie, seine Haut feucht von Schweiß. Er hatte es irgendwie geschafft, das Klebeband von seinem Mund abzuziehen, und jetzt beugte er sich zu ihr herüber und flüsterte: »Leg dich hinter mich und bleib unten, Claire! Was immer passiert, stell dich einfach tot.«
»Was hast du vor?«
»Ich versuche, dich zu beschützen.«
»Warum?«
»Weißt du das denn nicht?« Er sah sie an, und obwohl es derselbe pummelige, picklige Will war, den sie so gut kannte, sah sie etwas Neues in seinen Augen, etwas, das sie bisher nicht bemerkt hatte. Es leuchtete dort so hell, dass es nicht zu übersehen war. »Ich werde nicht noch einmal die Chance bekommen, das zu sagen«, flüsterte er. »Aber du sollst wissen, dass …«
Der Riegel wurde zurückgeschoben. Sie erstarrten beide, als die Tür sich knarrend öffnete und der Lauf einer Pistole auftauchte, gehalten von behandschuhten Händen. Die Waffe schwenkte langsam von einer Seite zur anderen, als ob sie ein Ziel suchte und es nicht fände.
Ein Mann mit rasiertem Schädel schob sich in den Raum und rief: »Er ist nicht hier! Aber die anderen.«
Jetzt trat eine Frau ein, zierlich und elegant, ihr Haar unter einer Strickmütze verborgen. »So, wie der Hund geheult hat, war doch klar, dass hier unten jemand ist«, sagte sie. Sie standen Seite an Seite, zwei Eindringlinge, ganz in Schwarz gekleidet, und inspizierten den Raum voll gefesselter Gefangener. Der Blick der Frau fiel auf Claire, und sie sagte: »Wir sind uns schon einmal begegnet. Erinnerst du dich, Claire?«
Claire starrte die Frau an, und plötzlich musste sie an Scheinwerfer denken, die auf sie zurasten. Den Unfall auf nächtlicher Straße, das Geräusch von splitterndem Glas und Schüssen. Und sie erinnerte sich an den Schutzengel, der wie durch ein Wunder aufgetaucht war und sie aus dem Wrack gezogen hatte.
Nimm meine Hand, Claire. Wenn dir dein Leben lieb ist.
Die Frau wandte sich an Will, der sie mit offenem Mund anstarrte. »Und wir kennen uns auch schon, Will.«
»Sie waren da«, murmelte er. »Sie sind die Frau …«
»Irgendjemand musste dich ja retten.« Sie zog ein Messer aus der Tasche. »Und jetzt muss ich wissen, wo dieser Mann ist.« Sie hielt das Messer hoch, als wäre es eine Belohnung dafür, dass sie ihr halfen.
»Schneiden Sie mich los«, blaffte Sansone, »und ich helfe Ihnen, den Kerl unschädlich zu machen.«
»Tut mir leid, aber dieses Spiel ist nichts für Zivilisten«, sagte die Frau. Sie musterte die Gesichter. »Was ist mit Teddy? Weiß jemand, wo er ist?«
»Vergessen Sie Teddy«, sagte Claire. »Er ist ein Verräter. Er hat uns in diese Falle gelockt.«
»Teddy weiß nicht, was er tut«, sagte die Frau. »Er wurde belogen und in die Irre geführt. Hilf mir, ihn zu retten.«
»Er wird nicht rauskommen. Er versteckt sich.«
»Weißt du, wo?«
»Auf dem Dach«, sagte Claire. »Da sollte er warten.«
Die Frau sah ihren Begleiter an. »Dann müssen wir raufgehen und ihn holen.« Anstatt Sansone zu befreien, kniete die Frau sich hinter Claire und schnitt ihr die Fesseln durch. »Du kannst uns helfen, Claire.«
Claire atmete erleichtert auf und rieb sich die Handgelenke, spürte das willkommene Kribbeln, als das Blut in die Hände zurückfloss. »Wie?«
»Du bist seine Mitschülerin. Auf dich wird er hören.«
»Er hört auf keinen von uns«, sagte Will. »Er hilft diesem
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