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Abendruh: Thriller (German Edition)

Abendruh: Thriller (German Edition)

Titel: Abendruh: Thriller (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
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Alles lief genau nach Plan.
    Aber ich sah immer noch das Gesicht des kleinen Carlo vor mir, wie er mich anstarrte, mit einem Blick, der meine Brust durchbohrte und sich in mein Herz krallte. Wenn man eine so starke Vorahnung hat, sollte man sie niemals ignorieren.
    Ich hab sie ignoriert, und das bereue ich jetzt.

7
    Maura fuhr mit heruntergelassenen Fenstern und ließ den Duft des Sommers in ihren Wagen wehen. Schon Stunden zuvor hatte sie die Küste von Maine hinter sich gelassen und war in nordwestlicher Richtung weitergefahren, in das sanfte Hügelland hinein, wo die Felder im goldenen Licht der Nachmittagssonne lagen. Dann ging es in den Wald hinein, und bald darauf standen die Bäume so dicht, dass es schien, als wäre urplötzlich die Nacht hereingebrochen. Maura fuhr viele Meilen, ohne einem einzigen Auto zu begegnen, und sie fragte sich schon, ob sie vielleicht irgendwo falsch abgebogen war. Hier gab es keine Häuser, keine Einfahrten, nicht ein einziges Schild, das ihr verraten hätte, ob sie noch auf dem richtigen Weg war.
    Sie war schon drauf und dran umzukehren, als die Straße unvermittelt an einem Tor endete. Auf dem Bogen darüber prangte ein einzelnes Wort, geformt aus kunstvoll verschlungenen Lettern: ABENDRUH .
    Maura stieg aus ihrem Lexus und betrachtete mit gerunzelter Stirn das verschlossene Tor, das von massiven Steinpfosten flankiert wurde. Sie konnte keinen Klingelknopf entdecken, und der schmiedeeiserne Zaun zog sich zu beiden Seiten tief in den Wald hinein, so weit ihr Blick reichte. Sie zog ihr Handy aus der Tasche, um in der Schule anzurufen, aber hier inmitten der Wildnis gab es keinen Empfang. Die Stille der Wälder verstärkte noch das ominöse Sirren einer Stechmücke, und sie schlug sich auf die Wange, als sie plötzlich einen Stich verspürte. Beunruhigt starrte sie den Blutfleck auf ihrer Hand an. Schon war sie von einer ganzen Wolke der hungrigen Plagegeister umzingelt. Sie wollte sich schon in ihren Wagen flüchten, als sie den Golfwagen erblickte, der sich von der anderen Seite dem Tor näherte.
    Maura erkannte die Frau, die aus dem Golfwagen stieg und ihr zuwinkte, sofort wieder. Anfang dreißig, mit eng anliegender Bluejeans und grüner Windjacke bekleidet, sah Lily Saul wesentlich gesünder und glücklicher aus, als Maura sie von ihrer letzten Begegnung in Erinnerung hatte. In ihren braunen Haaren, die sie zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden hatte, waren jetzt blonde Strähnchen, und ihre rosig glänzenden Wangen hatten nichts mit dem bleichen, hageren Gesicht gemein, das Maura von jenen blutigen Weihnachtstagen her noch vor Augen hatte. Damals waren sie sich im Rahmen einer Mordermittlung begegnet, deren gewaltsames Ende sie beide fast das Leben gekostet hätte. Doch Lily Saul, die Jahre damit verbracht hatte, vor echten und eingebildeten Dämonen davonzulaufen, war eine gewiefte Überlebenskünstlerin, und nach ihrem fröhlichen Lächeln zu urteilen, hatte sie ihre Albträume wohl endlich hinter sich gelassen.
    »Wir hatten Sie früher erwartet, Dr. Isles«, sagte Lily. »Ich bin froh, dass Sie es noch vor Einbruch der Dunkelheit geschafft haben.«
    »Ich hatte schon befürchtet, ich müsste über den Zaun klettern«, sagte Maura. »Hier gibt es kein Handynetz, und ich konnte niemanden anrufen.«
    »Oh, wir wussten schon von Ihrer Ankunft.« Lily tippte einen Code in das Tastenfeld am Tor ein. »An dieser Straße sind überall Bewegungsmelder. Und auch wenn Sie sie wahrscheinlich nicht gesehen haben – es gibt auch Kameras.«
    »Das sind ja sehr aufwendige Sicherheitsmaßnamen für eine Schule.«
    »Es geht uns nur um den Schutz unserer Schüler. Und Sie wissen ja, wie viel Wert Anthony auf Sicherheit legt. Für ihn kann es nie genug sein.« Sie betrachtete Maura durch die Gitterstäbe. »Ist ja auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was wir alle durchgemacht haben.«
    Maura starrte in Lilys Augen, und ihr wurde bewusst, dass die junge Frau ihre Albträume noch nicht vollends besiegt hatte. Ein Schatten der Vergangenheit lag noch auf ihr.
    »Es ist fast zwei Jahre her, Lily. Ist seither wieder etwas passiert?«
    Lily zog das Tor auf und sagte mit ahnungsvollem Unterton: »Noch nicht.«
    Das war just die Art von Bemerkung, die zu Anthony Sansone passte. Jedes Verbrechen hinterließ bei Überlebenden wie Sansone und Lily bleibende Narben. Beide hatten blutige persönliche Tragödien zu verarbeiten, und für sie würde die Welt immer ein Ort sein, wo an jeder Ecke Gefahren

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