Abendruh: Thriller (German Edition)
nicht?«
Maura durchquerte den Raum, vorbei an langen Reihen von Holztischen und -stühlen, an einer Sammlung von Globen mit Darstellungen der Erde, die den Wissensstand verschiedener Epochen repräsentierten. »Solange Sie es nicht als Faktenwissen lehren«, sagte sie und blieb stehen, um einen Globus von 1650 zu inspizieren. Die Kontinente waren grotesk verzerrt, weite Gebiete unbekannt und unerforscht. »Es ist Aberglaube. Ein Mythos.«
»Dabei bringen wir den Schülern doch Ihr Glaubenssystem bei, Dr. Isles.«
» Mein Glaubenssystem?« Maura sah sie verdutzt an. »Was soll das denn sein?«
»Die Naturwissenschaften. Chemie und Physik, Zoologie und Botanik.« Sie warf einen Blick auf die alte Standuhr. »Da ist Julian übrigens jetzt gerade – im Botanikunterricht. Die Stunde müsste gleich zu Ende sein.«
Sie verließen die Bibliothek und kehrten durch die dunkel getäfelte Passage in die Eingangshalle zurück, wo sie die breiten Stufen hinaufstiegen. Als sie unter dem Gobelin vorbeikamen, sah Maura den Stoff auf der Steinwand flattern, als ob gerade ein Luftzug hereingeweht wäre, und die Einhörner schienen zum Leben zu erwachen, schienen unter den üppig tragenden Obstbäumen zu erzittern. Die geschwungene Treppe führte an einem Fenster vorbei, und Maura blieb kurz stehen, um den Blick auf die bewaldeten Hügel in der Ferne zu bewundern. Julian hatte ihr erzählt, dass seine Schule von Wäldern umgeben sei, meilenweit von der nächsten Siedlung entfernt. Jetzt erst erkannte sie, wie isoliert Abendruh tatsächlich war.
»Hier kommt nichts und niemand an uns heran.« Die Stimme, so leise sie sprach, erschreckte Maura durch ihre Nähe. Lily stand halb verborgen im Schatten des Bogengangs. »Wir bauen unser eigenes Obst und Gemüse an. Wir halten Hühner für die Eier und Kühe für die Milch. Heizen mit unserem eigenen Holz. Wir brauchen die Welt da draußen überhaupt nicht. An diesem Ort fühle ich mich zum ersten Mal wirklich sicher.«
»Hier im Wald, unter Bären und Wölfen?«
»Wir wissen beide, dass es jenseits dieser Mauern vieles gibt, was gefährlicher ist als alle Bären und Wölfe.«
»Ist es für Sie immer noch so schwer, Lily?«
»Ich denke jeden Tag an das, was damals passiert ist. Was er meiner Familie und mir angetan hat. Aber seit ich hier lebe, ist es schon sehr viel besser geworden.«
»Wirklich? Ist es nicht so, dass die Abgeschiedenheit Ihre Ängste nur noch verstärkt?«
Lily sah sie unverwandt an. »Eine gesunde Angst vor der Welt ist das, was manche von uns am Leben hält. Das ist die Lektion, die ich vor zwei Jahren gelernt habe.« Sie ging weiter die Treppe hinauf, vorbei an einem düsteren Gemälde, das drei Männer in mittelalterlichen Gewändern zeigte; auch dies sicherlich ein Werk aus Anthony Sansones Familiensammlung. Maura stellte sich vor, wie Horden tobender Schüler jeden Tag an diesem Meisterwerk vorbeistürmten, und sie fragte sich, wie viele Millisekunden dieses Kunstwerk in einer anderen Schule überleben würde. Sie dachte auch an die Bibliothek mit ihren kostbaren Büchern in goldgeprägten Ledereinbänden.
Die Schüler von Abendruh mussten wirklich etwas ganz Besonderes sein, dass man ihnen solche Schätze anvertraute.
Sie kamen im ersten Obergeschoss an, und Lily deutete nach oben zum zweiten Stock. »Die Wohnquartiere sind auf der nächsten Etage. Die Schlafsäle der Schüler im Ostflügel, Zimmer für Lehrpersonal und Gäste im Westflügel. Sie haben wir im älteren Teil des Westflügels untergebracht, wo es wunderbare gemauerte Kamine gibt. Im Sommer sind das die besten Zimmer im ganzen Gebäude.«
»Und im Winter?«
»Sind sie unbewohnbar. Es sei denn, Sie wollen die ganze Nacht Holz nachlegen. Wir sperren den Flügel ab, sobald es kalt wird.« Lily führte sie den Flur im ersten Stock entlang. »Mal sehen, ob der alte Pasky schon fertig ist.«
»Wer?«
»Professor David Pasquantonio. Er unterrichtet Botanik, Zellbiologie und organische Chemie.«
»Das sind aber recht fortgeschrittene Themen für die Mittelstufe.«
»Mittelstufe?« Lily lachte. »Wir behandeln diese Fächer schon in der Unterstufe. Zwölfjährige haben viel mehr drauf, als die meisten Leute ihnen zutrauen.«
Sie gingen an offenen Türen vorbei, an verlassenen Klassenzimmern. Maura erhaschte einen Blick auf ein menschliches Skelett, das an einem Ständer hing, einen Labortisch und Gestelle mit Reagenzgläsern, eine Schautafel zur Weltgeschichte mit einem Zeitstrahl, der die
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