Abendruh: Thriller (German Edition)
blickte ein kreisförmiges Buntglasfenster wie ein vielfarbiges Auge auf sie herab. An diesem düsteren Nachmittag drang jedoch nur ein schmutzig trübes Licht durch die Scheibe.
Maura blieb am Fuß einer breiten Treppe stehen und bewunderte einen Wandteppich, auf dem in verblichenen Farben zwei ruhende Einhörner in einer Laube aus Kletterpflanzen und Obstbäumen zu sehen waren. »Das ist ja wirklich ein Schloss«, sagte sie.
»Erbaut um 1835 von einem Größenwahnsinnigen namens Cyril Magnus.« Lily schüttelte angewidert den Kopf. »Er war Eisenbahnbaron, Großwildjäger, Kunstsammler – und laut den meisten Berichten alles in allem ein sehr unangenehmer Charakter. Das hier war seine Privatresidenz. Erbaut im neugotischen Stil, den er bei seinen Europareisen kennen- und bewundern gelernt hatte. Der Granit wurde fünfzig Meilen von hier gebrochen. Das Holz ist gute alte Maine-Eiche. Als die Abendruh-Schule dieses Anwesen vor dreißig Jahren kaufte, war es noch ziemlich gut in Schuss; das meiste, was Sie hier sehen, ist also noch original. Im Lauf der Jahre hat Cyril Magnus das Gebäude immer wieder erweitert, was es ziemlich schwierig macht, sich zurechtzufinden. Wundern Sie sich also nicht, wenn Sie sich verlaufen.«
»Dieser Gobelin«, sagte Maura und deutete auf den Bildteppich mit den Einhörnern, »sieht sehr alt aus.«
»Ist er auch. Er stammt aus Anthonys Villa in Florenz.«
Maura hatte die kostbaren Gemälde aus dem 16. Jahrhundert und die venezianischen Möbel gesehen, die Sansone in seiner Villa auf Beacon Hill aufbewahrte. Sie hatte keinen Zweifel, dass seine Residenz in Florenz nicht minder prächtig war, mit noch beeindruckenderen Kunstschätzen. Aber dies waren nicht die warmen honigfarbenen Wände einer toskanischen Villa; hier strahlte der graue Stein eine Kälte aus, die auch ein sonniger Tag nicht vertreiben konnte.
»Waren Sie schon einmal dort?«, fragte Lily. »In seinem Haus in Florenz?«
»Ich habe noch keine Einladung bekommen«, antwortete Maura. Offenbar im Gegensatz zu Ihnen.
Lily sah sie nachdenklich an. »Ich bin mir sicher, dass es nur eine Frage der Zeit ist«, sagte sie und wandte sich zu einer getäfelten Wand um. Sie drückte gegen eines der Paneele, und eine verborgene Tür sprang auf. »Das ist der Durchgang zur Bibliothek.«
»Wollen Sie die Bücher verstecken?«
»Nein, es ist nur eine der Eigenheiten dieses Hauses. Ich glaube, der alte Cyril Magnus liebte Überraschungen, denn es ist nicht die einzige Tür im Haus, die als etwas anderes getarnt ist.« Lily führte sie einen fensterlosen Gang entlang, wo die Düsternis durch die dunkle Holztäfelung noch verstärkt wurde. Am anderen Ende angelangt, betraten sie einen Saal, durch dessen hohe Bogenfenster das letzte graue Licht des Tages einfiel. Maura blickte staunend zu den Reihen von Bücherregalen auf, die über drei Etagen bis unter eine gewölbte Stuckdecke reichten, bemalt mit Fresken von Wattewölkchen in einem blauen Himmel.
»Hier schlägt das Herz von Abendruh«, sagte Lily. »In dieser Bibliothek. Die Schüler dürfen jederzeit herkommen, Tag und Nacht, und sich jedes beliebige Buch aus den Regalen nehmen, solange sie nur versprechen, es mit Respekt zu behandeln. Und wenn sie in der Bibliothek nicht finden, was sie suchen …« Lily ging auf eine Tür zu und öffnete sie, um Maura ein Zimmer mit einem Dutzend Computern zu zeigen, »… gibt es als letzten Ausweg immer noch Dr. Google.« Mit leicht angewiderter Miene zog sie die Tür wieder zu. »Aber wer braucht schon das Internet, wo doch die wahren Schätze hier zu finden sind.« Sie deutete auf die drei Stockwerke voller Bücher. »Das gesammelte Wissen von Jahrhunderten, alles unter einem Dach. Mir läuft schon das Wasser im Mund zusammen, wenn ich sie nur anschaue.«
»Da spricht die Geschichtslehrerin aus Ihnen«, sagte Maura, während sie einige Titel überflog. Napoleons Frauen. Leben der Heiligen. Ägyptische Mythologie. Sie hielt inne, als ihr Blick an einem Titel hängen blieb – goldene Lettern, in schwarzes Leder gestanzt. Luzifer. Das Buch schien ihr zuzurufen, schien ihre Aufmerksamkeit zu fordern. Sie zog es heraus und starrte den abgegriffenen Ledereinband an, geprägt mit der Abbildung eines kauernden Dämons.
»Wir glauben, dass kein Wissensgebiet tabu ist«, sagte Lily leise.
»Wissen?« Maura schob das Buch wieder ins Regal und sah die junge Frau an. »Oder Aberglaube?«
»Es hilft, wenn man beides versteht, finden Sie
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