Abendruh: Thriller (German Edition)
Hirsche, das sich lautlos durch die Dämmerung bewegte. Für ein Stadtkind wie Jane war es ein magischer Anblick. Hier, wo wilde Hirsche sich so sicher fühlten, dass sie die Blicke der Menschen nicht scheuten, mussten die Temples geglaubt haben, ihren eigenen Zufluchtsort gefunden zu haben. Einen Ort, an dem sie sich niederlassen konnten, wo niemand sie kannte und niemand sie beachtete.
»Es war reines Glück, dass der Junge überlebt hat«, sagte Wyman.
»Sind Sie sicher, dass es nur Glück war?«
»Wie ich schon sagte, ich habe ihn vorübergehend selbst verdächtigt. Das musste ich, das war reine Routine. Aber dieser Junge, der war wirklich vollkommen fix und fertig. Wir haben sein Teleskop auf der Wiese gefunden, wo er es zurückgelassen hatte. Der Himmel war sternenklar in dieser Nacht, ideal, um Kometen zu beobachten. Und er hat selbst ziemlich was abbekommen bei dem Versuch, seine Tante und seinen Onkel zu retten.«
»Man hat mir gesagt, eine Autofahrerin, die zufällig vorbeikam, hätte ihn ins Krankenhaus gebracht?«
Wyman nickte. »Ja, die Frau fuhr hier vorbei und sah die Flammen. Sie hat den Jungen in die Notaufnahme gefahren.«
Jane drehte sich zur Straße um. »Das letzte Haus, das ich gesehen habe, war rund eine Meile von hier. Wohnt diese Frau hier in der Gegend?«
»Ich glaube nicht.«
»Sie wissen es nicht?«
»Wir haben nie mit ihr gesprochen. Sie hat den Jungen abgesetzt und ist davongefahren. Sie hat noch der Schwester ihre Telefonnummer gegeben, aber da muss es irgendeine Verwechslung gegeben haben. Als wir dort anriefen, meldete sich irgendein Typ in New Jersey, der keine Ahnung hatte, wovon wir redeten. Zu diesem Zeitpunkt gingen wir noch gar nicht von einem Verbrechen aus. Wir dachten, es sei ein Unfall gewesen, deswegen war die Suche nach Zeugen nicht unsere oberste Priorität. Erst später, nachdem wir von dem Semtex erfuhren, war uns klar, dass wir es mit Mord zu tun hatten.«
»Es ist möglich, dass sie in der Nacht etwas gesehen hat. Vielleicht ist sie sogar dem Mörder auf der Straße begegnet.«
»Wir haben versucht, sie ausfindig zu machen, aber ohne Erfolg. Sowohl der Junge als auch die Schwester in der Notaufnahme haben sie als blond und schlank beschrieben, in den Vierzigern. Das passt zu dem flüchtigen Bild, das die Überwachungskamera des Krankenhauses von ihr eingefangen hat.« Wyman blickte zum Himmel auf, als erste Regentropfen fielen. »Das ist also das Rätsel, vor dem wir stehen. Es ist, als ob wir nur die Spitze des Eisbergs sehen, und die ganze Geschichte dahinter bleibt verborgen.« Er zog seine Kapuze über. »Ich habe die Akte für Sie im Wagen. Lesen Sie sich alles mal durch, und rufen Sie mich an, falls Sie irgendwelche Fragen haben.«
Sie nahm den dicken Stapel Papiere, den er ihr reichte. »Ich habe tatsächlich noch eine Frage. Ich wüsste gerne, wie Will nach Abendruh gekommen ist.«
»Ich dachte, Sie waren gerade dort. Hat man es Ihnen nicht gesagt?«
»Die Schulpsychologin sagte, Will sei von Ihrer staatlichen Jugendbehörde dorthin überwiesen worden.«
»Ich sag’s Ihnen, das war mit Abstand die schnellste Vermittlung, die ich je erlebt habe. Einen Tag nach dem Brand, als der Junge noch im Krankenhaus war, bekam ich einen Anruf aus dem Büro des Gouverneurs. Sie hatten den Jungen unter besonderen Schutz gestellt. Und dann kreuzt so ein Typ in einem neutralen Wagen auf, schnappt sich den Jungen und rauscht mit ihm davon.«
»Was für ein Typ?«
»Na, so ein Großer, Dunkelhaariger. Ganz in Schwarz, wie ein Vampir.«
Ganz in Schwarz. Anthony Sansone .
17
»Hiermit eröffne ich das heutige Treffen der Schakale«, verkündete Julian.
Maura sah zu, wie die sechs Jungen ihre Plätze im Chemieraum einnahmen. Da sie alle im Speisesaal an Julians Tisch saßen, kannte Maura inzwischen ihre Namen. In der zweiten Reihe erblickte sie Bruno Chinn, der nie auch nur eine Minute still zu sitzen schien; auch jetzt rutschte er zappelig auf seinem Stuhl hin und her. Neben ihm saß Arthur Toombs, die von Brandnarben verunstalteten Hände auf dem Tisch verschränkt. Diese Narben, so hatte man ihr erzählt, waren die hässlichen Andenken an ein Feuer, das sein eigener Vater gelegt hatte. Nahe der Tür saß Lester Grimmett, ein Junge, der von der Vorstellung besessen war, jederzeit schnell fliehen zu können. Ein rascher Sprung aus dem Fenster hatte ihm einmal das Leben gerettet, und seitdem wählte er immer, aber auch immer einen Platz in der Nähe des
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