Abendruh: Thriller (German Edition)
überwältigt vom Ansturm der Fragen. »Die Bestimmung des Todeszeitpunkts ist immer schwierig, wenn es keine Zeugen gibt. Bei Menschen achten wir auf verschiedene Indikatoren. Körpertemperatur, Leichenstarre, Totenflecke …«
»Haben Sie schon einmal bei einem Vogel die Kaliumkonzentration im Glaskörper gemessen?«, fragte Bruno.
Sie starrte ihn an. »Nein. Nein, das kann ich nun nicht behaupten. Ich muss zugeben, von der Pathologie der Vögel verstehe ich nicht allzu viel.«
»Na ja, immerhin haben wir schon mal die Todesursache. Aber warum wurde er dann aufgeschlitzt? Warum sollte der Täter ihm die Eingeweide herausziehen und ihn in einen Baum hängen?«
Exakt die Frage, die ich auf der Lichtung gestellt habe.
»Das geht schon in Richtung Profiling«, sagte Julian. »Vorläufig wollen wir uns auf die Sachbeweise konzentrieren. Ich bin noch einmal in den Wald gegangen und habe nach dem Kadaver gesucht, aber ich fürchte, irgendein Aasfresser hat ihn verschleppt. Wir können die Überreste also nicht untersuchen. Ich habe auch um den Hühnerstall herum nach Schuhabdrücken gesucht, aber ich muss leider sagen, dass der Regen sie fast völlig verwischt hat. Deswegen würde ich vorschlagen, dass wir jetzt zu dem kommen, was ihr gefunden habt.« Er sah Bruno an. »Möchtest du weitermachen?«
Während Bruno nach vorn ging, setzte Maura sich hin und kam sich dabei vor wie eine Schülerin, die ihre Hausaufgaben nicht gemacht hat. Sie hatte keine Ahnung, was der zappelige, nervöse kleine Bruno den anderen zeigen wollte. Er zog Latexhandschuhe an und griff in eine braune Papiertüte. Zum Vorschein kamen die drei Zweigpuppen, noch mit den Galgenschnüren aus Bindfaden um den Hals. Er legte sie auf die Edelstahlplatte des Labortischs. So banale Gegenstände, dachte sie, als sie sie jetzt betrachtete. Im hellen Neonlicht des Klassenzimmers sahen die rotbraunen Flecken überhaupt nicht wie Blut aus, sondern eher wie Schlammspritzer. Als sie dort in der Weide gehangen und sich im Wind gedreht hatten, da hatten sie etwas Satanisches ausgestrahlt. Jetzt hatten sie ihre Macht verloren, und sie sah in ihnen nur noch das, was sie waren: Bündel von Zweigen.
»Hier haben wir die Beweisstücke A, B und C«, sagte Bruno. »Menschenähnliche Figuren, die offenbar zwei Jungen und ein Mädchen darstellen sollen. Sie sind aus verschiedenen Zweigen und Borke gefertigt und mit Bindfaden zusammengebunden. Den Bindfaden habe ich untersucht, und ich bin zu dem Schluss gekommen, dass er aus Jute besteht. Ich habe die gleiche Art Bindfaden auch in der Scheune gefunden; er wird zum Zusammenbinden der Heuballen für die Pferde benutzt.« Er griff in die Hosentasche und zog ein Stück Bindfaden heraus. »Seht ihr? Identisch! Aus unserer eigenen Scheune!« Er ging wieder an seinen Platz.
»Arthur, möchtest du jetzt übernehmen?«, fragte Julian.
»Ich habe die Zweige identifiziert«, erklärte Arthur, während er aufstand. »Der Rock aus Borke war kein Problem. Es handelt sich dabei um Betula papyrifera , die Papier-Birke. Mit den Zweigen war es schon etwas schwieriger. Es sind zwei verschiedene Arten. Nach der glatten grünen Borke und den spitzen Knospen zu urteilen, würde ich sagen, dass es sich bei einem Teil davon um Fraxinus nigra handelt, die Schwarzesche. Die anderen Zweige konnte ich anhand ihres sternförmigen Marks identifizieren. Ich glaube, es ist die Balsampappel. All diese Bäume kann man unten am Bach finden.«
»Gute Arbeit«, lobte Julian.
Maura sah Arthur an, als er wieder Platz nahm, und sie dachte: Dieser Fünfzehnjährige weiß mehr über Bäume, als ich je wissen werde. CSI Highschool erwies sich als weitaus beeindruckender, als sie gedacht hatte.
Lester erhob sich von seinem Stuhl, doch er ging nicht nach vorn, sondern blieb gleich neben der Tür stehen, wo er sich sicher fühlte. »Ich habe mir das Seil angeschaut, das benutzt wurde, um das Opfer an dem hohen Weidenast aufzuhängen. Ich musste zum Tatort zurückgehen und auf den Baum klettern, um mir eine Probe zu besorgen, da wir Herman – das Opfer – im Wald nicht finden konnten.«
»Und was hast du über das Seil herausgefunden?«, fragte Julian.
»Es ist weißes Nylon, Stärke: ein Viertelzoll, mit Diamantbindung. Ein Allzweckseil mit guter Zugbelastbarkeit. Fäulnis- und schimmelbeständig.« Lester machte eine Pause. »Ich habe das ganze Gelände abgesucht, um herauszufinden, woher es stammen könnte, und im Werkzeugschuppen habe ich eine ganze
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