Abendruh: Thriller (German Edition)
Ich bin davon ausgegangen, dass es schlicht und einfach ein Unfall war. Ein Heizofen, ein Propantank, irgend so was. Dann hat der Brandmeister sich die Geschichte angesehen und etwas gefunden, das nach einem Brandsatz aussah. Und in dem Moment haben wir das Dezernat Schwerverbrechen bei der State Police eingeschaltet. Steht alles in meinem Bericht. Ich hab Ihnen eine Kopie mitgebracht, liegt im Wagen.«
»Der Neffe, Will – was hatten Sie für einen Eindruck von ihm? Ich meine, abgesehen davon, dass er ein Nerd ist?«
»Ich hab mir den Jungen natürlich gründlich vorgenommen. Ich habe mich gefragt, ob er vielleicht Probleme mit seiner Tante und seinem Onkel hatte, ob er es leid war, unter ihrer Fuchtel zu stehen. Aber wir sind uns ziemlich sicher, dass er es nicht gewesen sein kann.«
»Sie haben doch gerade angedeutet, dass er ein intelligenter Junge ist. Da könnte er sich wahrscheinlich das nötige Wissen angeeignet haben, um eine Bombe zu bauen.«
»Aber keine wie die hier.«
»Was war daran so besonders?«
»Zunächst mal, dass Semtex drin war.«
Das verblüffte sie. »Plastiksprengstoff?«
»Hoch komplizierter Aufbau. Laut FBI stammten die Komponenten aus Frankreich. Nicht die Art von Bombe, die ein vierzehnjähriger Junge bastelt, wenn er seine Tante und seinen Onkel ermorden will.«
Jane runzelte die Stirn und betrachtete die geschwärzten Balken. Und kam zu dem einzig möglichen Schluss. Das war das Werk eines Profis. »Erzählen Sie mir etwas über die Temples.«
»Sie waren die einzigen lebenden Verwandten des Jungen. Lynn Temple war die Schwester seiner Mutter. Sie hatte in der Nähe von Baltimore als Bibliothekarin gearbeitet. Brian Temple war Physiker am NASA -Forschungszentrum Goddard in Greenbelt, Maryland, wo auch Wills Vater Neil Yablonski beschäftigt war. Die beiden Männer waren Freunde und Kollegen, und die zwei Paare standen sich recht nahe. Nachdem die Eltern des Jungen bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren, bekamen Lynn und Brian das Sorgerecht für Will. Was danach passierte, ist ziemlich mysteriös.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wenige Tage nachdem die Eltern des Jungen bei dem Absturz umgekommen waren, kündigten sowohl Brian als auch Lynn ihre Jobs. Von heute auf morgen gibt Brian eine zwanzigjährige Karriere bei der NASA auf. Sie packen ihre Koffer, lagern die Möbel ein und verlassen Baltimore. Ein paar Monate später haben sie sich hier niedergelassen.«
»Ohne Arbeit zu haben? Wovon haben sie denn gelebt?«
»Auch eine gute Frage. Als die Temples starben, hatten sie fünfhunderttausend Dollar auf dem Konto. Also, ich weiß ja nicht, wie gut die NASA zahlt, aber das ist doch schon ein ganz ordentliches Polster, selbst für einen Physiker.«
Es begann zu dämmern. Aus dem Wald traten noch zwei weitere Hirsche, eine Kuh und ihr Kalb, doch sie waren vorsichtig und beäugten argwöhnisch die zwei Menschen, während sie sich Schritt für Schritt auf die Lichtung hinauswagten. Wenn die Jagdsaison eröffnet war, würde ihre Scheu ihnen in der einen oder anderen Situation vielleicht das Leben retten. Aber nichts kann dich retten, wenn der Jäger dich einmal erspäht hat.
»Wovor sind die Temples davongelaufen?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht, aber es ist ziemlich offensichtlich, dass sie vor etwas auf der Flucht waren. Vielleicht wussten sie etwas über diesen Flugzeugabsturz.«
»Und warum sind sie dann nicht zur Polizei gegangen?«
»Keine Ahnung. Als ich mit dem Kollegen aus Maryland gesprochen habe, der den Tod der Yablonskis untersucht hat, klang er genauso perplex wie ich.«
»Hat Will gewusst, warum seine Tante und sein Onkel hierhergezogen sind?«
»Sie haben ihm erzählt, Baltimore sei eine gefährliche Stadt und sie wollten lieber an einem sichereren Ort wohnen. Das war alles.«
»Und hier endet ihre Geschichte«, sagte sie und dachte an herabstürzende Balken, sengend heiße Flammen. Ein grässlicher Tod am Rand eines stillen Walds.
»Dabei ist das hier tatsächlich eine sichere Gegend«, sagte Wyman. »Wir haben unsere Fälle von Alkohol am Steuer, und unsere Teenager machen auch Dummheiten. Vielleicht mal ein Einbruch oder eine Familie, die sich in die Haare kriegt. Das sind so die Sachen, die in unserem Protokollbuch stehen. Aber das hier?« Er schüttelte den Kopf. »Mit so etwas hatte ich noch nie im Leben zu tun. Und ich hoffe auch, dass es das erste und letzte Mal war.«
Auf der Wiese erschienen noch mehr Silhouetten. Ein ganzes Rudel
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