Abendruh: Thriller (German Edition)
Teenagers.«
»Es kommt mir trotzdem irgendwie falsch vor«, sagte Karla. »So kurz nach Annas Tod mit den Kindern eine Vergnügungsreise zu machen. Wir sollten auch hierbleiben, ihr zu Ehren. Und herauszufinden versuchen, was sie dazu getrieben hat.«
»Der Schmerz um ihren Verlust«, sagte Lily leise. »Manchmal holt er einen eben ein, auch Jahre später noch.«
Pasquantonio schnaubte abfällig. »Wie lange ist das jetzt her? Zweiundzwanzig Jahre?«
»Sie sprechen von dem Mord an Annas Mann?«, fragte Maura.
Pasquantonio nickte und griff nach der Weinbrandflasche, um sich nachzuschenken. »Sie hat mir alles darüber erzählt. Wie Frank aus seinem Auto heraus entführt wurde. Wie seine Firma das Lösegeld bezahlt hat, aber Frank dennoch ermordet wurde. Erst Tage später ist seine Leiche wieder aufgetaucht. Es hat nie eine Verhaftung gegeben.«
»Das muss sie in Rage versetzt haben«, sagte Maura. »Und nach innen gekehrte Wut führt in die Depression. Wenn sie diese Wut all die Jahre mit sich herumgetragen hat …«
»Das geht uns doch allen so«, unterbrach sie Pasquantonio. »Deswegen sind wir hier. Deswegen haben wir diese Arbeit gewählt. Die Wut ist das, was uns antreibt.«
»Aber so etwas kann auch gefährlich sein. Die Wut kann außer Kontrolle geraten.« Maura blickte sich im Zimmer um, sah in die Gesichter dieser Menschen, die alle von Gewalttaten gezeichnet waren. »Sind Sie sicher, dass Sie damit umgehen können? Können es Ihre Schüler? Ich habe gesehen, was da in der Weide hing. Irgendjemand hier hat bereits bewiesen, dass er – oder sie – fähig ist zu töten.«
Unbehagliches Schweigen trat ein, und die Lehrer sahen einander an.
Schließlich sagte Direktor Baum: »Das ist etwas, was uns Sorgen bereitet und worüber ich gestern noch mit Anna gesprochen habe. Dass möglicherweise einer unserer Schüler schwer gestört ist, vielleicht gar …«
»… ein Psychopath«, vollendete Lily seinen Satz.
»Und Sie haben keine Vorstellung, wer es sein könnte?«, fragte Maura.
Baum schüttelte den Kopf. »Das ist es, was Anna am meisten beunruhigt hat. Dass sie keine Ahnung hatte, wer von den Schülern es sein könnte.«
Ein Psychopath. Schwer gestört.
Das Gespräch ließ Maura keine Ruhe, als sie später an diesem Abend die Treppen hinaufstieg. Sie dachte über traumatisierte Kinder nach und darüber, wie Gewalt Seelen verbiegen kann. Was muss das für ein Kind sein, fragte sie sich, das einen Hahn aus Spaß tötet, ihn aufschlitzt und mit hervorquellenden Eingeweiden in einen Baum hängt? Und sie fragte sich, in welchem Zimmer des Schlosses dieses Kind jetzt gerade schlief.
Anstatt in ihr Quartier zurückzukehren, ging sie weiter die Stufen hinauf bis zu Annas Büro im Erkerturm. Sie war schon früher am Abend dort gewesen, zusammen mit den Detectives der State Police, und so rechnete sie nicht mit irgendwelchen Überraschungen oder neuen Erkenntnissen, als sie jetzt den Raum betrat und das Licht anknipste. Tatsächlich sah alles so aus, wie sie es zurückgelassen hatten. Die Quarzkristalle im Fenster. Die Räucherstäbchen, heruntergebrannt bis auf Stummel von grauer Asche. Auf dem Schreibtisch lag ein Stapel Akten, die oberste immer noch aufgeschlagen bei einem Polizeibericht aus St. Thomas. Es war Teddy Clocks Akte. In der Nähe stand eine Vase mit den Rosen, die Anna am Morgen geschnitten hatte. Maura versuchte sich vorzustellen, was Anna durch den Kopf gegangen war, als sie die Stängel gekappt und den Blütenduft eingeatmet hatte. Dies ist der letzte Tag, an dem ich Blumen riechen werde? Oder hatte es diese Gedanken an die verrinnende Zeit, den Abschied vom irdischen Dasein gar nicht gegeben? War es nur ein ganz normaler Morgen im Garten gewesen?
Was hatte diesem Tag eine so tragische Wendung gegeben?
Sie ging im Zimmer umher und suchte nach Spuren von Annas Präsenz. Sie glaubte nicht an Geister, und wer sich weigert, daran zu glauben, wird niemals einem begegnen. Dennoch verweilte sie in dem Raum, atmete den Duft von Rosen und Weihrauch ein, atmete die gleiche Luft, die Anna noch vor Kurzem geatmet hatte. Die Tür, durch die Anna den Zinnengang betreten hatte, war jetzt wegen der nächtlichen Kühle geschlossen. Das Tablett mit der Teekanne, den Porzellantassen und der Zuckerdose stand noch auf dem Beistelltisch, wie am Morgen während Janes und Mauras Besuch. Die Teetassen waren sauber und ineinander gestapelt, die Kanne war leer. Anna hatte sich die Zeit genommen, Kanne und
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