Abendruh: Thriller (German Edition)
meisten beschäftigten. Die Motive; die geheimen Qualen, die Menschen dazu brachten, Fremde zu töten oder sich selbst das Leben zu nehmen.
Nachdem das letzte Einsatzfahrzeug das Schulgelände verlassen hatte, ging Maura nach oben in den Gemeinschaftsraum, wo der größte Teil des Kollegiums sich versammelt hatte. Ein Feuer brannte im Kamin, aber keine der Lampen war eingeschaltet, als ob sie alle an diesem tragischen Abend keine grelle Beleuchtung ertragen könnten. Maura ließ sich in einen Sessel sinken und blickte in die Gesichter, die vom flackernden Schein der Flammen erhellt wurden. Sie hörte ein leises Klirren, als Gottfried Baum ein Glas Weinbrand einschenkte. Wortlos stellte er es neben Maura auf den Tisch, in der Annahme, dass auch sie eine Stärkung vertragen könne. Sie nickte und nahm dankbar einen kleinen Schluck.
»Irgendjemand hier muss doch eine Ahnung haben, warum sie es getan hat«, sagte Lily. »Es muss irgendwelche Anzeichen gegeben haben, deren Bedeutung wir bloß nicht erkannt haben.«
»Wir können ihre E-Mails nicht überprüfen«, sagte Gottfried Baum, »weil ich ihr Passwort nicht kenne. Aber die Polizei hat ihre persönlichen Sachen durchsucht und dabei keinen Abschiedsbrief gefunden. Ich habe mit der Köchin und mit dem Gärtner gesprochen, und beide haben nichts Erwähnenswertes beobachtet; keinerlei Anzeichen dafür, dass Anna selbstmordgefährdet war.«
»Ich habe sie heute Morgen im Garten gesehen; sie hat Rosen für ihren Schreibtisch geschnitten«, sagte Lily. »Würde eine Frau, die vorhat, sich das Leben zu nehmen, so etwas tun?«
»Woher sollen wir das wissen?«, murmelte Dr. Pasquantonio. » Sie war schließlich die Psychologin.«
Baum sah sich unter seinen Kollegen um. »Sie haben doch alle mit den Schülern gesprochen. Hat von ihnen jemand eine Erklärung?«
»Niemand«, antwortete Karla Duplessis, die Literaturlehrerin. »Anna hatte für heute vier Schülergespräche angesetzt. Arthur Toombs war ihr letzter Termin, um dreizehn Uhr, und er sagte, sie habe ein wenig unkonzentriert gewirkt, aber nichts weiter. Die Kinder sind genauso ratlos wie wir. Wenn Sie glauben, dass es für uns schwierig ist, dann überlegen Sie einmal, wie hart es für sie sein muss. Anna hat sich ihrer emotionalen Bedürfnisse angenommen, und nun müssen sie erfahren, dass sie selbst schwach und anfällig war. Da müssen sie sich doch fragen, ob sie überhaupt auf uns zählen können. Ob Erwachsene stark genug sind, um ihnen eine Stütze zu sein.«
»Und deshalb dürfen wir keine Schwäche zeigen. Nicht jetzt.« Die barschen Worte kamen aus einer dunklen Ecke des Zimmers. Es war Roman, der Förster; der Einzige, der sich kein Gläschen Weinbrand für die Nerven gegönnt hatte. »Wir müssen unserer Arbeit nachgehen wie immer.«
»Das wäre unnatürlich«, wandte Karla ein. »Wir brauchen alle Zeit, um das zu verarbeiten.«
» Verarbeiten? Das ist bloß so ein hochtrabender Ausdruck für Jammern und Klagen. Die Dame hat sich umgebracht, und uns bleibt nichts übrig, als weiterzumachen wie bisher.« Mit einem verächtlichen Schnauben erhob er sich und verließ den Raum, begleitet von einer Wolke von Kiefernduft und Tabakrauch.
»Die Menschenfreundlichkeit in Person«, murmelte Karla halblaut. »Kein Wunder, dass wir Schüler haben, die Hühner massakrieren, bei solchen Vorbildern wie Roman.«
»Aber Mr. Roman hat einen wichtigen Punkt angesprochen«, meinte Gottfried Baum. »Es ist wichtig, an der Routine festzuhalten. Die Schüler brauchen das. Sie brauchen natürlich auch Zeit zum Trauern, aber sie müssen zugleich die Erfahrung machen, dass das Leben weitergeht.« Er sah sich zu Lily um. »Wir sagen doch den Ausflug nach Quebec nicht ab?«
»Ich habe nichts storniert«, antwortete sie. »Die Hotelzimmer sind gebucht, und die Kinder reden schon seit Wochen über kaum etwas anderes.«
»Dann sollten Sie die Fahrt mit ihnen machen, wie versprochen.«
»Es fahren doch nicht alle mit, oder?«, fragte Maura. »Angesichts von Teddys Situation halte ich es für zu gefährlich, wenn er sich ohne Begleitschutz in der Öffentlichkeit bewegt.«
»Detective Rizzoli hat uns das bereits eingeschärft«, sagte Lily. »Er wird hierbleiben, wo wir wissen, dass er sicher ist. Will und Claire bleiben auch hier. Und Julian selbstverständlich.« Lily lächelte. »Er hat mir gesagt, er wolle mehr Zeit mit Ihnen allein verbringen. Ein ganz bemerkenswertes Kompliment, Dr. Isles, aus dem Mund eines
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