Abendruh: Thriller (German Edition)
in der Familie. Es war mein Job, für ihre Sicherheit zu sorgen.«
Eine Verantwortung, die niemals auf den Schultern eines sechzehnjährigen Jungen lasten sollte, dachte sie. Er mochte die Statur eines Mannes haben, die breiten Schultern eines Mannes, doch sie sah die Tränen eines Jungen auf seinen Wangen. Er wischte sie mit dem Ärmel ab und sah sich nach Taschentüchern um.
Sie ging nach nebenan ins Bad und riss ein paar Blatt Toilettenpapier ab. Als sie sich bückte, sah sie im Augenwinkel etwas aufblitzen, wie glitzernder Sand auf der Toilettenbrille. Sie berührte die Stelle und starrte die weißen Körnchen an, die an ihrer Fingerkuppe klebten. Dann fiel ihr auf, dass noch mehr davon auf den Badezimmerfliesen funkelten.
Jemand hatte etwas in die Toilette geschüttet.
Sie ging zurück ins Büro und betrachtete das Tablett auf dem Beistelltisch, und sie erinnerte sich daran, wie Anna in dieser Kanne Kräutertee aufgegossen und drei Tassen eingeschenkt hatte. Wie Anna drei gehäufte Teelöffel Zucker in ihre Tasse gegeben hatte, eine Extravaganz, die Maura aufgefallen war. Sie hob den Deckel der Zuckerdose an. Sie war leer.
Warum sollte Anna den Zucker in die Toilette schütten?
Als das Telefon auf Annas Schreibtisch klingelte, fuhren sie und Julian zusammen. Sie wechselten einen Blick – die Vorstellung, dass jemand eine tote Frau anrief, irritierte sie beide.
Maura hob ab. »Internat Abendruh, Dr. Isles am Apparat.«
»Du hast mich nicht zurückgerufen«, sagte Jane Rizzoli.
»Hätte ich das tun sollen?«
»Ich habe vor Stunden eine Nachricht bei Dr. Welliver hinterlassen. Ich dachte mir, ich versuch’s lieber selber noch mal, ehe es zu spät wird.«
»Du hast mit Anna gesprochen? Wann?«
»So gegen fünf, halb sechs.«
»Jane, es ist etwas Furchtbares passiert, und …«
»Doch nicht mit Teddy?«, fiel ihr Jane ins Wort.
»Nein. Nein, ihm geht’s gut.«
»Was ist es dann?«
»Anna Welliver ist tot. Es sieht nach Selbstmord aus. Sie ist vom Dach gesprungen.«
Es trat eine lange Pause ein. Im Hintergrund konnte Maura einen Fernseher hören, fließendes Wasser und das Klappern von Geschirr. Alltagsgeräusche, bei denen sie plötzlich ihr eigenes Haus, ihre eigene Küche vermisste.
»Mein Gott«, brachte Jane schließlich heraus.
Maura sah auf die Zuckerdose. Sie stellte sich vor, wie Anna sie in der Toilette ausleerte und in dieses Zimmer zurückging. Wie sie die Außentür öffnete und hinaustrat, um einen kurzen Gang in die Ewigkeit anzutreten.
»Warum sollte sie sich das Leben nehmen?«, fragte Jane.
Maura starrte noch immer die leere Zuckerdose an. Und sie sagte: »Ich bin keineswegs davon überzeugt, dass sie das getan hat.«
22
»Sind Sie sicher, dass Sie sich das antun wollen, Dr. Isles?«
Sie standen im Vorraum des Leichenschauhauses, umgeben von Vorratsschränken mit Handschuhen, Masken und Überschuhen. Maura hatte schon einen OP -Anzug aus dem Umkleideraum angezogen und war gerade dabei, ihre Haare unter einer Papierhaube verschwinden zu lassen.
»Ich schicke Ihnen den Abschlussbericht zu«, sagte Dr. Owen. »Und ich werde ein umfassendes Drogenscreening anfordern, wie Sie es vorgeschlagen haben. Sie können natürlich gerne bleiben, aber ich denke …«
»Ich bin nur hier, um zu beobachten, nicht um mich einzumischen«, sagte Maura. »Sie haben hier ganz allein das Sagen.«
Sie sah, wie Dr. Owen unter ihrer bauschigen Papierhaube errötete. Selbst unter dem harten Neonlicht wirkte ihr Gesicht jugendlich, und ihre beneidenswert glatte Haut hatte keine der kaschierenden Cremes und Puder nötig, die nach und nach in Mauras Badezimmerschrank Einzug gehalten hatten.
»So war das nicht gemeint«, sagte Dr. Owen. »Ich denke nur an die Tatsache, dass Sie sie persönlich gekannt haben. Das ist doch bestimmt nicht leicht für Sie.«
Durch das Sichtfenster hatte Maura Dr. Owens Assistenten, einen stämmigen jungen Mann, beim Herrichten der Instrumentenschale beobachtet. Auf dem Seziertisch lag der Leichnam von Anna Welliver, noch vollständig bekleidet. Wie viele Tote habe ich schon aufgeschnitten, fragte sie sich, von wie vielen Schädeln die Kopfhaut abgezogen? Es waren so viele, dass sie längst den Überblick verloren hatte. Aber es waren alles Fremde gewesen, mit denen sie keine Erinnerungen teilte. Anna hingegen hatte sie gekannt. Sie kannte ihre Stimme und ihr Lächeln, und sie hatte den lebendigen Glanz in ihren Augen gesehen. Dies war eine Obduktion, die jeder Kollege
Weitere Kostenlose Bücher