Abendruh: Thriller (German Edition)
ihr Körper von Blutergüssen bedeckt und von Rippen-, Schädel- und Beckenbrüchen verformt.
Doch es waren die Male auf ihrer Haut, auf die sich ihre Blicke hefteten. Male, die für den Röntgenapparat unsichtbar waren und erst jetzt zum Vorschein kamen. Die Narben erstreckten sich über die ganze Vorderseite des Rumpfs, ein hässliches, knotiges Gitternetz, das ihre Brüste, ihren Bauch und sogar die Schultern bedeckte. Maura dachte an die züchtigen Großmutterkleider, die Anna selbst an warmen Tagen getragen hatte – nicht etwa wegen ihres exzentrischen Modegeschmacks, sondern um diese Narben zu verbergen. Maura fragte sich, wann Anna zuletzt einen Badeanzug getragen oder sich an einem Strand gesonnt hatte. Diese Narben sahen alt aus – unauslöschliche Andenken an eine unsägliche Tortur.
»Könnte es sich um eine Art von Hauttransplantationen handeln?«, fragte Randy.
»Das sind keine Hauttransplantationen«, stellte Dr. Owen fest.
»Aber was ist es dann?«
»Ich weiß es nicht.« Dr. Owen sah Maura an. »Sie vielleicht?«
Maura gab keine Antwort. Sie richtete ihre Aufmerksamkeit auf die unteren Extremitäten, griff nach der Lampe und lenkte den Strahl auf die Schienbeine, wo die Haut dunkler war. Und dicker. Sie sah Randy an. »Wir brauchen detaillierte Röntgenaufnahmen der Beine. Insbesondere der Schienbeine und beider Sprunggelenke.«
»Ich habe die Skelettaufnahmen schon gemacht«, sagte Randy. »Die Filme hängen da drüben. Darauf sind alle Frakturen zu sehen.«
»Es geht mir nicht um die neuen Frakturen. Ich suche nach alten.«
»Wie soll uns das bei der Ermittlung der Todesursache helfen?«, fragte Dr. Owen.
»Es geht darum, das Opfer zu verstehen. Ihre Vergangenheit, ihre seelische Verfassung. Sie kann nicht mehr mit uns reden, aber ihr Körper kann es.«
Maura und Dr. Owen zogen sich in den Vorraum zurück, wo sie durch das Sichtfenster zusahen, wie Randy, nachdem er sich eine Bleischürze umgelegt hatte, die Leiche für eine neue Serie von Röntgenaufnahmen zurechtlegte. Wie viele Narben hast du versteckt, Anna? Die Male auf ihrer Haut waren nicht zu übersehen, aber was war mit den seelischen Wunden, die niemals verheilten, die nicht durch Granulationsgewebe und Kollagen geschlossen werden konnten? Waren es alte Qualen, die sie schließlich dazu getrieben hatten, auf den Zinnengang hinauszutreten und ihren Körper der Schwerkraft und dem harten Erdboden auszuliefern?
Randy hängte einen neuen Satz Filme am Leuchtkasten auf und gab Maura und Dr. Owen ein Zeichen. Als sie wieder hineingingen, sagte er: »Ich kann auf diesen Aufnahmen keine weiteren Frakturen erkennen.«
»Es müssten ältere sein«, bemerkte Maura.
»Keine Narbenbildung, keine Deformationen. Ich kenne durchaus den Unterschied.«
Die Verärgerung in seiner Stimme war nicht zu überhören. Sie war der Eindringling, die überhebliche Expertin aus der Großstadt, die seine Kompetenz infrage stellte. Sie wollte sich nicht auf eine Diskussion mit ihm einlassen und konzentrierte sich stattdessen auf die Röntgenaufnahmen. Was er gesagt hatte, war korrekt: Auf den ersten Blick waren keine offensichtlichen alten Frakturen der Arm- oder Beinknochen zu erkennen. Sie trat näher, um zuerst das rechte und dann das linke Schienbein in Augenschein zu nehmen. Die dunklere Haut an Annas Unterschenkeln hatte ihren Verdacht geweckt, und was sie nun auf diesen Bildern sah, bestätigte ihre Diagnose.
»Sehen Sie das, Dr. Owen?« Maura deutete auf die Ränder des Schienbeins. »Achten Sie auf die Schichtung und die Dicke.«
Die junge Rechtsmedizinerin runzelte die Stirn. »Es ist dicker, da stimme ich Ihnen zu.«
»Es liegen auch Veränderungen der inneren Knochenhaut vor. Können Sie sie erkennen? Das sind eindeutige Hinweise.« Sie sah Randy an. »Dürften wir jetzt bitte die Sprunggelenke sehen?«
»Hinweise worauf?«, fragte er, immer noch nicht überzeugt von dieser Expertin aus Boston.
»Auf eine Periostitis. Entzündliche Veränderungen der Knochenhaut.« Maura zog die Schienbeinaufnahmen vom Leuchtkasten.
Mit verkniffener Miene steckte Randy die neuen Filme in die Clips. Was Maura auf diesen Bildern sah, räumte ihre letzten Zweifel aus. Dr. Owen, die neben ihr stand, murmelte nur betroffen: »Oh.«
»Das sind klassische Knochenveränderungen«, sagte Maura. »Ich habe so etwas erst zwei Mal gesehen. Einmal bei einem Einwanderer aus Algerien. Das zweite Mal bei einem Mann aus Südamerika, dessen Leiche in einem Frachter
Weitere Kostenlose Bücher