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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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wohin?« – »Ja. Ich hab Verwandte in München.« Er schwieg. »Geh nicht fort«, rief sie, »ich habe solche Angst!« Er erhob sich. »Ich muß in die Batterie.« Sie begann wieder zu weinen: »Bleib doch!« Er sagte: »Laß dir’s gutgehn.« Sie rief hinter ihm her: »Werner!« Er warf die Vorsaaltür zu und lief aus dem Haus.
     
    Gottesknecht stand auf den Stufen der Schreibstube. Holt meldete sich zurück. Gottesknecht sah ihn lange an, vom versengten,unbedeckten Kopf bis hinab zu den Füßen. »Doch nicht etwa mittenhineingeraten?«
    »Jawohl.«
    »In Wattenscheid?«
    »Jawohl.«
    Gottesknecht schwieg. Dann fragte er: »Und … schlapp gemacht?« Holt schüttelte den Kopf.
    Gottesknecht stopfte sich eine Pfeife und entzündete sie. »Lassen Sie sich vom Sanitäter Brandsalbe geben, und Heftpflaster. Oder wollen Sie ins Revier? Gut. Tauschen Sie die Montur. Die Mütze ist weg? Schreiben Sie einen Wisch, ich mach meinen Wilhelm drauf, das soll der Wachsmuth zu den Listen legen. Die Kleiderbude brennt sowieso eines Tages mal ab.«
    »Jawohl, Herr Wachtmeister.«
    Gottesknechts Blick ruhte auf Holt. Dann fragte er: »Wohl gerade noch rausgekommen?«
    »Jawohl.«
    »Allein?«
    »Ein kleines Mädchen hab ich mitgeschleppt. Und eine Frau. Sie hat mir’s so schwer gemacht. Als ich das Kind endlich draußen hatte, da war’s … da hat es nicht mehr gelebt.«
    »Holt!« sagte Gottesknecht, und er kam die wenigen Stufen herab, und tatsächlich: er nahm Holt am Arm und zog ihn fort, zur Feuerstellung hin. »Werner … Junge … Kopf hoch!« Er sprach sehr leise. »Zähne zusammenbeißen. Durchhalten. Nicht schlapp machen. Das ist doch die einzige Chance! Ein paar von euch
müssen
übrigbleiben. Der Krieg geht zu Ende, vielleicht bald. Ihr müßt weiterleben.«
    Sie blieben stehen. »Verstehn Sie mich recht«, fuhr Gottesknecht eindringlich fort. »Ich bin Lehrer, Jungen wie euch hab ich zum Abitur geführt, ich will das wieder tun. Soll ich vor leeren Klassenzimmern unterrichten? Ihr müßt es durchstehen! Wenn dieser Krieg zu Ende ist, dann … beginnt der schwerere Kampf. Es ist nicht nur das kleine Mädchen, Holt. Keiner kann mehr die Toten zählen. Es ist schon zuviel gestorben worden! Nach dem Krieg ist soviel Arbeit. Die Suppe ist in fünf Jahren eingebrockt,ein Jahrhundert wird daran löffeln.« Er zwang Holt seinen Blick auf. »Wer sich heute freiwillig zu den Ein-Mann-Torpedos meldet, zu den Sturmstaffeln oder Panzerjagdkommandos, der drückt sich vor dem schwereren Kampf, der nachher kommt! Wer sich mit allen Mitteln zu bewahren sucht, nicht aus Feigheit, Holt, sondern aus Einsicht, der bewahrt sich für … Deutschland.«
    Deutschland … dachte Holt. Zum erstenmal im Leben hörte er das Wort nicht von Jubel getragen oder von Heilrufen umrahmt, sondern gleichsam entblößt von allem Flitter und Standartengold, durchzittert von tiefer Sorge. »Deutschland«, sagte Gottesknecht, »das ist ja schon heute kein Gigant mehr, der Europa beherrscht, sondern ein blutendes, elendes Etwas. Es wird noch elender werden und bettelarm und wird unsagbar leiden, aber es darf nicht verbluten! Für das riesige, schimmernde Deutschland von gestern zu sterben,
das
nenn ich Feigheit, Holt. Aber für das arme, todwunde Deutschland von morgen zu leben … das ist Heroismus, dazu gehört Mut. Ich weiß: Sie suchen, Holt … einen Sinn, ein Ziel, einen Weg … Ich kenn den Weg nicht. Ich kann Ihnen nicht helfen. Wir sind alle mit Blindheit geschlagen und müssen durch die sieben Höllen hindurch bis zum Ende.« Er schwieg. Dann sagte er noch: »Das muß wohl so sein. Damit wir endlich wir selbst werden.«
    Holt ging allein zur Baracke weiter. Die verbrannten Hände schmerzten nicht mehr. Er schaute geradeaus, über die Baracke hinweg, am Horizont lag Dunst. Er blickte durch den Dunst hindurch ins Ferne und Uferlose. Er begriff nichts und verstand nichts. Er horchte, ob nicht das Wecksignal ertöne … aber noch war es wohl nicht soweit.
     
    Er fiel in einen Schlaf, der an Ohnmacht grenzte. Die anderen ließen ihn liegen und rüttelten ihn erst am Nachmittag wach.
    Holt fand sich in der kleinen Stube wieder, und ein Gefühl der Geborgenheit durchströmte ihn. Er hörte Wolzows rauhe Stimme: »Raus, du Penner! Ich hab dir was zu fressen mitgebracht!« Er fühlte Gomulkas Blick mitleidig auf sich gerichtet.
    Keller, Kalkstaub, Feuersturm, ist das überhaupt Wirklichkeitgewesen? Unmeßbares Grauen war nun wie von Nebel bedeckt,

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