Abenteuer des Werner Holt
Fahrschein. Ruf mich morgen an.« Er nickte. Sie erhob sich: »Jetzt laß ich alles stehn und liegen. Ich will unbedingt ins Kino, kommst du mit? In Wattenscheid wird zufällig noch einmal ›Nora‹ gespielt, nach Ibsen, ich hab den Film voriges Jahr verpaßt.«
Sie brauchten fast eine Stunde, bis sie in Wattenscheid anlangten. Die Verkehrsmittel hatten durch die ständigen Angriffe stark gelitten. In dem engen, muffigen Kinosaal wurde Holt ein beklemmendes Gefühl nicht mehr los. Unfug, zur Abendvorstellung zu gehen! Es gibt bestimmt Alarm, bei diesem idealen Wetter: ein bißchen diesig, da sind die Jäger behindert, die Flak auch … Und wir sitzen hier in einer wildfremden Gegend, weit weg von Gerties Wohnung, weit weg von der Batterie … Apathischsaß er in dem harten Klappstuhl, den Stahlhelm auf den Knien. Der Film interessierte ihn nicht. Er atmete erleichtert auf, als der Streifen endlich abgelaufen war. »Komm!« Aber sie wollte noch die Wochenschau sehen. »Es soll Bilder vom Attentat geben!« Er setzte sich wieder. Die Fanfare des Vorspanns war noch nicht verhallt, da brach die Wochenschau auch schon ab; auf der Leinwand erschienen die Worte: »Voralarm! Verlassen Sie sofort das Theater!« – »Da hast du’s, verdammt!« rief er wütend. Sie sagte beschwichtigend: »Vielleicht sind es nur Aufklärer!« Alles drängte zum Ausgang.
Es war zweiundzwanzig Uhr. Draußen umfing sie die Nacht. Der verschleierte Himmel leuchtete schwach. Holt orientierte sich rasch: die Straße, von Trümmergrundstücken und ausgebrannten Fassaden gesäumt, lief nach Norden, vermutlich nach Gelsenkirchen; mochte sich der Teufel in diesem Städtegewirr zurechtfinden! Die Straßenbahn fuhr nicht mehr. Der Menschenhaufen verlief sich rasch. Bald war die Straße menschenleer. Sie gingen sehr schnell und erreichten ein unzerstörtes Stadtviertel mit engen Straßen. Nun schlug das Auf und Ab der Sirenen wie eine Woge zum Himmel hoch. Sie liefen im Laufschritt weiter. Flakfeuer donnerte, fern erst, dann ganz nahe. Am Himmel summten Motoren. Holt tröstete sich: Sie überfliegen uns nur! Sein Blut erstarrte: Oder sind es Pfadfinder? Die Nacht wurde taghell. Irgendwo fielen Leuchtkaskaden, es mußte sehr nahe sein, die hohen Häuser versperrten die Aussicht, aber der Himmel gleißte.
Ein Mann verstellte ihnen den Weg, abenteuerlich uniformiert, die Volksgasmaske um den Hals: »Halt … halt! Von der Straße weg! In den Schutzraum!« Frau Ziesche redete schnell, angstvoll, aber Holt sagte: »Sei vernünftig, Herrgott!« Er zog sie in den Hausflur. »Sie bleiben hier oben«, sagte der Luftschutzwart zu Holt. Frau Ziesche rief: »Nein! Ich … ich bin leidend … ganz hilflos, ich brauche Schutz!« Sie zog ihn die steile und tiefe Treppe hinab.
Der Kellergang war mit Menschen vollgestopft. Holt überschaute den matt erleuchteten Raum, überschaute die hundertGesichter, die wie kreidige Flecke in der Dämmerung schwebten, überschaute Koffer und Rucksäcke und die Wannen mit Wasser. An sein Ohr drang Kindergeschrei.
»Nicht den Ausgang verstellen!« Irgendwer schob Holt in den Keller. Holt strebte dem Ende des sehr langen Ganges zu, vielleicht nur, weil dort hinten Platz war. Sie stiegen über Packtaschen und ausgestreckte Beine hinweg. Der Platz war eigentlich gar nicht so schlecht, vielleicht nur etwas weit vom Ausgang entfernt. Sie saßen, als letzte in der langen Reihe, unmittelbar am Mauerdurchbruch. Das flache Tonnengewölbe des Kellerganges war hier noch einmal mit zwei starken Pfählen abgestützt, die wie Säulen den vermauerten Durchbruch zu Holts linker Hand flankierten. Er legte schützend den Arm um Frau Ziesche. Sie zitterte unter dem leichten Sommermantel. »Setz meinen Helm auf!« Der Helm war zu groß, aber so schützte er auch Nacken und Schultern. Holt sah sich einem kleinen Mädchen von vielleicht vier Jahren gegenüber. Das Kind war zusammengesunken, in tiefem Schlaf. Daneben lag viel Gepäck. Dann saß eine große, derbe Frau auf der Bank, sie trug eine Tarnjacke aus Zeltleinen und blaue Schihosen. Holt suchte in seinen Taschen die kleine Stabtaschenlampe, fand sie und steckte sie wieder weg. Eine dumpfe Stimme sagte: »Trocken Brot will ich essen mein Lebtag, wenn bloß die Bomben aufhören!«
Der Keller war sehr tief. Aber das Motorengedröhn der Bomber drang nun doch herab. Ein zitternder, gebrechlicher Greis setzte sich dicht neben Frau Ziesche. So saßen sie, zu dritt in die Mauerecke gepreßt. In der
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