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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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Kasernengebäude verlassen wurde, war »kriegsmäßiges Verhalten« vorgeschrieben. Der riesige, mehrere Hektar große Kasernenhof war gesprengt und in ein künstliches Trichterfeld verwandelt worden, in dessen Mitte wie ein drohendes Gespenst ein hundertmal ausgebrannter T 34 stand, ein grauenvolles Wrack, an dem man mit Nebelkerzen und Übungspanzerfäusten ausgebildet wurde. Wer aufrecht aus der Kasernentür trat, verfiel der Rache der Unteroffiziere. Selbst beim Essenholen setzte man mit dem leeren oder gefüllten Kochgeschirr gebückt und sprungweise durch die Trichter.
    Die Ausbilder brauchten kein Exerzieren, um die Rekruten»sauer zu machen«, wie der Fachausdruck hieß; man konnte ihnen beim Infanteriedienst »zeigen, was Preußengeist ist«, »die Gedärme rausleiern«, »das Gehirn ausschaben«, »die Seele verdorren«. Der UvD sorgte dafür, daß es in den Stuben nicht zu gemütlich zuging und warf das Bettzeug nicht nur in der Stube umher, sondern auch aus dem Fenster, zwei Stockwerke tief hinab. Er kippte mit Vorliebe Spinde nach vorn ins Zimmer. Man erlebte nachts den »Maskenball«, es gab das Scheuern des Korridors mit Hand- oder Zahnbürsten, schamlose Inspektionen bestimmter Körperteile, und es gab Gewehrappelle, die Samstag am Abend begannen und Sonntag am Abend endeten.
    Holt ertrug es stumm, auch Gomulka schwieg zu allem. Vetter stumpfte immer mehr ab. Wolzow nahm das alles als »Training für die Front«, wo es »weit ungemütlicher« zugehe. Der kleine, schwächliche Peter Wiese aber verfiel körperlich und zerbrach. Wolzow sagte ungerührt zu Holt: »Er geht drauf, so oder so. Nur die Starken bestehen die Probe.«
    Holt sah oft auf den schmächtigen Jungen. Er dachte: Drei Monate Ausbildung, noch acht Wochen, noch vier Wochen … Also hat er noch zwei Monate, noch einen Monat zu leben. Wiese träumte vom Konservatorium. »Ich bin nun doch fest entschlossen, Pianist zu werden! Vor allem Chopin und Rubinstein möchte ich spielen … Ja, Rubinstein hab ich erst im letzten Jahr entdeckt. Ich weiß nicht, was mir an ihm so gefällt. Vielleicht, weil er in seinen Jugendwerken so ein … Temperament hat, das mir selbst fehlt … Oder der Bal costumé, das müßte ich dir vorspielen, es ist unbeschreiblich! Du hast recht, eigentlich liegt mir Schumann viel mehr, ich hab ihn leidenschaftlich gern gespielt, aber er liegt mir eben zu sehr, bei ihm verlier ich mich.«
    »Da komm ich später in deine Konzerte«, sagte Holt. Wiese sah auf die Uhr. »Ich muß Revetcki und Boek die Schuhe putzen.«
     
    Die beiden Gruppenführer des Ausbildungszuges waren der Schrecken der Rekruten. Unteroffizier Revetcki nannte sich einen »preußischen Korporal«. Wolzows Formel: »Urvieh, halb Wildschwein, halb Kasperle«, war zu einfach. Revetcki war unberechenbar,herzlos, gemein, manchmal affektiert und albern, dann wieder roh und stumpf, gleichzeitig brutal und triefend von Sentimentalität, heute so, morgen so und übermorgen wieder ganz anders. Er war wortgewandt und flüsterte in wohlgesetzter Rede, dann wieder brüllte er, wüst und in schamlosen Ausdrücken. Er war von Beruf Schauspieler. Er spielte immer Theater, und wie er wirklich war, wußte keiner. Peter Wiese zitterte vor ihm, Holt nannte ihn einen Wahnsinnigen, Gomulka sagte: »Er ist pervers!«
    Er war Ende der Dreißig, klein, nur etwa einen Meter und sechzig groß, von zierlichem Wuchs. Er pflegte sorgfältig seine schlanken Hände und parfümierte sich. Sein Gesicht war zerknittert, verfältelt; in der Mitte, über einem hölzernen, roten Mund, hing eine gurkenförmige Nase herab. Er konnte dieses Gesicht zusammenfalten wie eine auf Leinwand aufgezogene Landkarte, er konnte es strahlend ausbreiten wie ein frischgewaschenes Laken. Aber sein Blick blieb kalt und böse. Das Register seiner mimischen Verwandlungsmöglichkeiten war endlos. Er sprach abwechselnd in Jamben, gereimt und im übelsten Kasernenhofton. Sein Haarschnitt, eine lange, dauergewellte Mähne, widersprach allen militärischen Sitten, und auf diesem Bubikopf thronte das Schiffchen; unter der Feldmütze quoll die Lockenpracht rings hervor. Es blieb ein Rätsel, wie er diese Haartracht zu bewahren verstand. Vieles war rätselhaft an ihm.
    Holt hatte ihn am ersten Tage kennengelernt. Er war noch keine halbe Stunde da und räumte seinen Spind ein, als sich die Tür öffnete und ein Männchen in die Stube trat, das Holt am liebsten für ein altes Weib gehalten hätte. Aber die Schulterklappen

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