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Abenteuer des Werner Holt

Abenteuer des Werner Holt

Titel: Abenteuer des Werner Holt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dieter Noll
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allmächtig, gütig und weise, Freund und Lehrer. Damals. Langsam brach das Eis. »Vater«, sagte Holt, und nun war doch eine Spur unbewußter Wärme in seinen Worten, »du sagtest einmal zu mir … es ist sehr lange her: Der Mensch muß eine Aufgabe haben, sonst lebt er wie ein Tier … Du hattest doch deine Aufgabe in Leverkusen. Sag mir die Wahrheit: warum hast du sie hingeworfen?«
    Der alte Holt rückte zur Seite und drehte den Stuhl ins Zimmer; das war wie eine Geste, und nun saßen Vater und Sohn dicht beisammen, im Licht der Lampe. »Eine Aufgabe«, wiederholte er. »Ja. So habe ich gesagt. Aber es gibt etwas, das darübersteht. Gewissen, Verantwortung, Treue zu sich selbst … Das mögen manchem … das mögen vor allem
heute
nur leere Begriffe sein. Aber es
sind
keine leeren Begriffe. Ich habe den Eid des Arztes nicht brechen können, und es wurde von mir verlangt. Ich habe nach den Auffassungen meiner Kollegen und Mitarbeiter … und auch deiner Mutter! … nicht nur leichtfertig meine Existenz zerstört, sondern angeblich auch ehrlos und verräterisch gehandelt. Aber ich werde dafür ein reines Gewissen haben, wenn das erst alles vorbei ist.«
    »Wenn … was alles vorbei ist?« fragte Holt. Der Professor sah auf, mit einem Blick, der Holt gefrieren ließ.
    »Das sogenannte ›dritte Reich‹«, erwiderte er.
    Ein tausendmal eingehämmerter Gedanke spülte über Holt hinweg: Verrat … Zersetzung … Aber dieser Gedanke blieb nicht haften und verrann, und an seine Stelle trat wieder Angst. »Du meinst …« Er verstummte und hörte seinen Vater reden, nüchtern und sachlich, aber wie aus großer Entfernung: »Du trägst eine Uniform, du trägst an der Armbinde dieses … Hakenkreuz, du bist zu mir gekommen, du hast mich aufgefordert, die Wahrheit zu sagen. Unter diesem Zeichen, das du am Arm trägst, haben die Nationalsozialisten den größten Raub- und Eroberungskrieg der Weltgeschichte vorbereitet und entfesselt, und nun verlieren sie ihn, eindeutig und gründlich. Ich habe bei der IG Farben damals an bestimmten Entwicklungen mitarbeiten sollen, die im Endeffekt der Menschenvernichtung dienen, ich habe das abgelehnt. Ich habe es darüber hinaus als verbrecherisch bezeichnet, dieGiftwirkung verschiedener chemischer Verbindungen, die zur Insektenbekämpfung geeignet waren, im Tierversuch an
Großsäugern
zu erproben, weil ich sah, wohin diese großangelegten Versuche führen sollten, und ich habe recht behalten: heute tötet die SS in den Konzentrationslagern mit einer von der IG hergestellten Kombination von Blausäure und Chlorkohlensäuremethylester Hunderttausende von Menschen …«
    Holt machte eine Handbewegung, die nichts als Hilflosigkeit ausdrückte, Hilflosigkeit und Angst. Der Professor mochte verstanden haben. Er schwieg. Die Tischlampe brannte trüb und warf riesige Schatten an die getünchten Wände. Holt kämpfte sekundenlang mit der Angst, und er zwang sie hinab, aber damit erlosch auch der Funken Wärme in seiner Seele. Die Fremdheit kehrte zurück, die Entfremdung breitete sich wieder zwischen ihnen aus wie ein Hauch von Kälte. Er fror. Er sah seinen Vater im trüben Lampenschein, und es war nun auf einmal wieder ein fremder, alter Mann, ein Menschenfeind … Wirft mir seine Wahrheit hin wie einem Hund den Knochen, dachte er, stößt mich hin und läßt mich liegen …
    Eins wurde ihm nun klar: er mußte schnell fort von hier … Der alte Mann, dachte er … Saugt an seiner Pfeife, sieht vor sich hin … Hier fror das Herz zu einem Klumpen Eis! Was will ich hier? dachte er, was trieb mich hierher, und warum mußte ich fragen?
    Fort! Wohin? Zu Gertie, dachte er. Er atmete auf. Bei ihr … ist Wärme, Geborgenheit, Trost …
    »Wenigstens haben wir uns mal wiedergesehen«, sagte er. Diese Worte brachte er unbefangen heraus. »Leider …«, es klang bedauernd, »muß ich morgen früh schon wieder fort. Bei der gespannten Luftlage …« Der Professor verstand. Nun war es an ihm, hilflos die Hand zu bewegen, und diese Hand fiel kraftlos auf die Tischplatte zurück. »Dann wollen wir schlafen gehen. Hoffentlich kommt kein Alarm.«
     
    Der Morgen erwachte mit klirrendem Frost. Der Professor ging groß und aufrecht in sein Laboratorium. Holt sah ihm nach. Fremdheit, Enttäuschung und Angst … Das schlug nun um inErbitterung. Geh nur, dachte er böse. Geh! Ich brauch dich nicht, ich will dich nicht, dich und deine … Wahrheit!
    Dann lief er zum Bahnhof.
    Ein Schnellzug für Fronturlauber trug

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