Abenteuer des Werner Holt
Ballett durch Europa gereist, durch Frankreich, England, Rußland … Er horchte auf. »In Rußland warst du?« Das Land sei uferlos wie der Himmel, der sich darüber wölbte, hörte er sie sagen, man ertrinke in Weite, in Grenzenlosigkeit … »Lies Dostojewskij«, sagte sie. Sein Blick suchte den Horizont, wo sich das Schneegeflimmer übergangslos mit dem Blau des Himmels vermischte. Weite, Grenzenlosigkeit, dachte er, ist denn nicht auch unser Leben wie ein endloser, zielloser Weg, über dem die Vorsehung unser Schicksal wie ein Gewitter zusammenbraut? »Lies, was Rilke über die russische Seele schreibt«, hörte er. Jetzt erst riß das Gespinst seiner Gedanken auseinander.
Er blieb stehen. »Ich denke, es sind alles Untermenschen?« fragte er, und er wunderte sich nicht einmal über den neuen Widerspruch. Sie sagte: »Irgendeinen Vorwand muß man ja haben, um sie umzubringen.«
Seltsam: es traf ihn nun nicht mehr … Das Leben geht weiter, dachte er, als er in die Batterie zurückkehrte, es kümmert sich nicht um uns, um unsere Enttäuschungen, unsere Ängste, es steht hoch und unbeeinflußbar über uns und zwingt uns auf den vorgezeichneten Weg, und wir müssen ihn gehen.
8
Der Winter brachte abwechselnd Schnee und Kälte und immer wieder wärmere Tage. Im Januar aber begann eine Periode grimmigen Frostes. Das Quecksilber zeigte des Nachts zweiundzwanzig, auch sechsundzwanzig Grad unter Null. Ungeachtet des harten Winters flogen die britischen Bomberverbände Nacht für Nacht über die Grenzen.
Die Jungen hockten steif vor Frost am Geschütz. »Der fünfte Kriegswinter!« Gomulka erzählte: »Daheim gibt’s nichts zu heizen, und das Essen wird immer erbärmlicher.« Vetter sagte: »Die da oben, die müssen sich doch den Arsch abfrieren!« – »Keine Spur!« erklärte Wolzow. »Die haben’s schön warm. Die Viermotorigen sind hermetisch geschlossen, die Piloten in den elektrisch beheizten Kombinationen werden ordentlich schwitzen!«
»Hör auf!« rief Holt. »Schwitzen … So ein Quatsch!« Er zog die Wolldecke fester um seine Beine, aber die Kälte stieg im Körper hoch und ließ die Glieder wie im Schüttelfrost zittern. Vetter schwätzte: »In einer abgeschossenen Stirling haben sie Schokolade gefunden und prima Zigaretten! Und Bohnenkaffee kochen sie sich auch!« Ziesche schnitt ihm das Wort ab: »Hör auf! Das grenzt an Zersetzung!« Vetter rief entrüstet: »Ich und Zersetzung! Du bist ein Rindvieh!« – »Still! Luftlage!« Sie verstummten und bereiteten sich aufs Schießen vor.
In diesen Frostnächten kam Kutschera immer erst unmittelbar vor dem Gefecht auf die B 2 und verschwand wieder, so schnell er konnte. »Wenn was Besonderes los ist, rufen Sie mich«, sagte er zu Gottesknecht. Dann schnüffelte er noch eine Weile zwischen den Geräten herum, jagte ein paar Luftwaffenhelfer grundlos über den gefrorenen Acker, meinte endlich: »Ach, leckt mich alle …« und zog ab. In seine Baracke hatte er sich von der Befehlsstelle eine Feldtelefonleitung legen lassen.
Solange es ruhig blieb, ging Gottesknecht, eine ganz und gar unmilitärische Pelzmütze auf dem Kopf, von Geschütz zu Geschütz und verteilte Wybert-Pastillen. »Nehmen Sie, Holt, das ist gut gegen Husten und Heiserkeit, jedenfalls steht’s so auf der Schachtel!« Eines Nachts, während die Jungen langsam zu Eis gefroren, braute Wolzow im Mannschaftsbunker Grog. Schmiedling rief: »Dös gibt’s fei net! Ohne meine da müssen S’ mich erst amol um Bewülligung gibt’s dös fei net!« Den Brennspiritus hatte Wolzow vom Waffenmeister; wer ihm den Arrak besorgt hatte, verriet er nicht. Sie schlürften das starke Getränk aus Kochgeschirrdeckeln und luden auch Gottesknecht dazu ein. Er gab Wolzow Sehrgut. Dann stieg der Alkohol den Jungen derartig zuKopf, daß die Richtkanoniere beim Schießen falsche Richtwerte einstellten; während die Bomber im Norden vorbeizogen, feuerte Anton nach Süden. Am Morgen zeigte es sich, daß man überdies sämtliche Nahfeuerpatronen verschossen hatte. Das ließ sich nicht verheimlichen. Gottesknecht änderte Wolzows Sehrgut in Nichtgenügend.
Am 11. Januar beging Holt seinen siebzehnten Geburtstag. Die Hamburger Verwandten schickten ein Zigarettenpäckchen, die Mutter eine Karte mit flüchtig hingeworfenen Zeilen: »Herzlichen Glückwunsch zum neuen Lebensjahr«. Holt schnob verächtlich durch die Nase. »Das ist typisch«, sagte er zu Gomulka. »Anderthalb Zeilen!« Er brannte sich eine
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