Abenteuer des Werner Holt
liefen sie nach Dora zurück.
Am anderen Morgen herrschte eine nervöse, gereizte Atmosphäre. Holt sah die Hamburger mit den anderen Oberhelfern uneins. Vielleicht lassen sie uns nun endlich in Ruhe, dachte er. Der Überfall war bestimmt nicht gemeldet worden, denn es galtals ungeschriebenes Gesetz, die Methoden der sogenannten Selbsterziehung nicht an Vorgesetzte weiterzutragen.
Aber der Hauptmann wußte doch davon. »Mal herhörn«, schrie er. »Fünf solche Banditen vom Geschütz Anton haben heut nacht in Berta gehaust wie die Vandalen … Mit ’m Aquarium schmeißen, wo gibt’s denn so was!« Und schon wieder unlustig, im Begriff sich abzuwenden: »Von den fünf wollen drei auf Urlaub gehn … Ich wer denen was husten!« Zwei Tage später durften sie sich doch in der Schreibstube ihre Papiere holen. »Zu ihrem Vater fahren Sie?« sagte Gottesknecht. »Dort bin ich auch zu Hause.«
Holt, Wolzow und Gomulka stoppten in Essen einen LKW, der sie nach Kassel mitnahm. Der Büssing kam im Schneesturm auf verschneiten Straßen nur langsam voran. Von Kassel brachte sie ein Zug nach Erfurt, wo sie abermals einen LKW fanden. Die Autobahn war eisfrei. Der Wagen schlich mit seinem Holzgasgenerator ermüdend langsam durch die Winterlandschaft. Der Fahrtwind pfiff durch das Verdeck. Wolzow saß vorn im Führerhaus. Gomulka, mit Holt unter der zugigen Plane, sagte: »Das Leben ist auch ohne Kanone mal ganz angenehm!«
Holt nickte, tief in Gedanken. Er fuhr zu einem Manne, den er kaum noch kannte. Vier Jahre sind eine lange Zeit! Fern über der Kindheit stand das Bild seines Vaters, seiner Mutter, und heute noch fror ihn, wenn er ans Elternhaus zurückdachte. Mutter: Du vergräbst dich in deinem Labor. Dazu brauchst du keine Frau wie mich … so oder ähnlich, immerfort Streit … Warum arbeitest du so viel, Vater? – Der Mensch hat eine Aufgabe! Ein Mensch ohne Aufgabe vegetiert wie ein Tier.
Vegetiert wie ein Tier, schießt Hirsche, schießt mit der Kanone, rauft sich mit Oberhelfern … Was ist meine Aufgabe? dachte Holt. Es ist Krieg. Wir kämpfen für Deutschland. Von Kindheit an stand es in allen Lesebüchern: Fürs Vaterland sterben, Langemarck, Schlageter, und so weiter.
Der Lastwagen hielt. »Hier wollte doch einer absteigen!« Holt verabschiedete sich. Er wanderte lange über eine Chaussee. Ringsum lag Schnee, der Himmel hing grau und diesig herab.
Die Stadt war fremd, eine unzerstörte Großstadt, ungewohnt, beengend, verwirrend. Die Adresse führte Holt in ein Gäßchen. Zu beiden Seiten ragten hohe Häuserzeilen auf. Wird wunderbar brennen! dachte Holt. Ein schmutziges Haus, drei Treppen, eine Wohnungstür … Holt dachte an die Villa in Leverkusen, an Mutters Haus in Bamberg, modern, hell, von Bäumen umstanden, die Südfront ganz aus Glas. Hier, in diesem schmutzigen Loch, stand »Holt« auf einem Pappschild, kein Doktorgrad, kein Professorentitel. Er klingelte. Die unfreundliche Wirtin gab ihm die Adresse eines städtischen Amtes.
Dort sagte der Pförtner: »Holt? Ist noch oben. Der murkst immer so lange rum. Gehn Sie mal hoch.« Korridore, Laboratorien, ein kleiner Raum, nur schwach erleuchtet. Ein Mann am Mikroskop.
Das also war Vater! Das Haar auf dem mächtigen Schädel war schlohweiß geworden. Der alte Holt richtete sich auf und rieb sich lange die Augen. Dann erkannte er seinen Sohn. »Werner! Tatsächlich Werner!« rief er überrascht.
Holt stand steif in der Tür. Er war enttäuscht, er wußte nicht, warum. Die Enge des bescheidenen Arbeitsraumes bedrückte ihn, das trübe Licht der Lampe auf dem Tisch, der abgetragene Anzug seines Vaters … Wieder fielen ihm die Redensarten seiner Mutter ein: Ein Sonderling … er hat nichts als seine Arbeit im Sinn … »Ich dachte, du freust dich«, sagte Holt, »wenn ich nach so langer Zeit … Aber laß dich nicht stören.« Professor Holt räumte seine Sachen zusammen. »Ich freue mich sehr. Du störst nicht, nein. Ich probiere hier nur nach der Arbeit ein paar Färbetechniken aus, früher war ja nie Zeit dazu.« Es stimmt, dachte Holt, noch tiefer enttäuscht, er hat nichts als seine Arbeit im Sinn … Bewegungslos, an die Tür gelehnt, sah er seinen Vater Flaschen, Reagenzgläser und Kolben im Schrank verschließen und das Mikroskop sorgfältig in den polierten Holzkasten schieben. »So, mein Junge, wir können gehen!«
Die Straßen waren finster. Ein paar Autos huschten mit verdunkelten Lichtern über den schneenassen Asphalt. Holt ging stumm
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