Abenteuer des Werner Holt
ihn nach Westen. Die Abteile waren mit Soldaten aller Waffengattungen vollgestopft. Bartstoppelige Gesichter, vom Schlaf entspannt, vom Wachsein entstellt. Heute war Heiliger Abend.
Magdeburg. Halt! Nicht weiter nach Norden! Er erreichte Hannover, dann saß er fest, es war auch kein Wagen zu finden, der weiterfuhr. Planlos lief er durch die Straßen. Es dämmerte. Er setzte sich in den Bahnhofswartesaal. Es wurde Abend. Radiolärm, eine Ansprache, nicht hinhören. Und dann: Stille Nacht, heilige Nacht … Weihnachtsabend. Deutsche Dome läuten die Weihnacht ein. Holt vergrub den Kopf in den Armen.
Am anderen Morgen langte er in Gelsenkirchen an, fuhr mit der Straßenbahn nach Essen und telefonierte. Frau Ziesche war überrascht. Er fragte: »Darf ich kommen?« – »Nein«, sagte sie. »Günter Ziesche kommt nachher auf Tagurlaub.« Er flehte: »Ich hab … alle Brücken hinter mir abgebrochen, du darfst mich jetzt nicht allein lassen.« Er hörte sie sagen: »Warte!« Es dauerte lange. »Also fahr nach Borken, das liegt hinter Wesel, irgendwie wirst du schon hinkommen. Dann läufst du bis zur Chausseegabelung und nach rechts ins nächste Dorf, es sind nur ein paar Kilometer, das Gasthaus heißt ›Zur Quelle‹. Dort treffen wir uns. Soll Ziesche sich kümmern. Ich laß mich von einem Bekannten mit dem Wagen hinfahren.« Er war glücklich. »Bis nachher«, sagte sie. »Ich freu mich auch.«
Er gelangte erst nachmittags ans Ziel. Er fand einen freundlichen Dorfgasthof. Sie saß in einer Ecke, unauffällig und mädchenhaft. Er faßte ihre Hände. Langsam wendete sie die Hand, über die er den Kopf beugte, und verschloß mit der warmen Innenfläche seinen Mund.
Sie liefen durch das flache, tiefverschneite Land. Die Ebene dehnte sich weit in der Dämmerung, eine eigenartige Niederungslandschaft. Auf Wiesen, Erlen und Weidengehölz, Moor undBruch fielen langsam die Schneeflocken. Die Grenze nach Holland konnte nicht fern sein. Es fror. Gegen Abend endete das Schneetreiben. In der Dämmerung summte es über ihren Köpfen. Sehr fern schoß Flak. Das war außerhalb ihres Lebens. Hier gab es keinen Alarm. Zwei volle, lange Tage lagen vor ihnen. Sie stapften durch knirschenden Schnee.
»Sieh dir die Winterlandschaft an«, sagte sie. »Ist es nicht schön hier?« Auch das war neu an ihr. Später erzählte er von seinem Vater. »Ein bißchen sehr pessimistisch«, sagte sie. »Aber im Prinzip hat er schon recht.« Sie redete von Ohnmacht und Schicksal, man sei nur eine Figur im großen Spiel. Das paßte zu seiner gedrückten Stimmung. »Vergiß das alles«, forderte sie. Auch Uta hatte gesagt: Vergiß das alles. »Ich kann das nicht vergessen!« – »Doch. Warte nur! Wenn du zur Batterie zurückgehst, hast du alles vergessen.«
In der leeren Gaststube brannten ein paar Kerzen am Weihnachtsbaum. Der Ofen spuckte wohlige Wärme. Der Gasthof war mit Bombengeschädigten belegt, aber für Frau Ziesche gab es jederzeit ein Zimmer. Vor Jahren habe man hier auf Betriebsausflügen gerastet, erzählte sie.
Sie saßen nach dem Essen am warmen Kachelofen, dicht beieinander. Im Radio ertönte wieder: »Stille Nacht, heilige Nacht …«, aber mit einem veränderten Text: »… Balder, das Urlicht, ist da …« Holt hörte nichts, er war nun, da draußen dunkel und drohend die Nacht stand, wieder hilflos der Erinnerung ausgeliefert, der Erinnerung an den weißhaarigen Mann und seine Worte … Sie gingen bald auf ihr Zimmer. Holt floh zu ihr, sie mochte ahnen, was in ihm vorging, und überließ sich ihm still und willenlos. Aber er lag noch lange wach und kämpfte gegen die Angst an, die nur langsam schwächer wurde. Es darf mich nicht umwerfen, sagte er sich. Ich hab es damals verwunden, bei Uta, ich hab auch Gerties … Gerede unterbekommen, es darf mich nicht umwerfen! Es häuft sich an, dachte er, es ist … wie eine Belastungsprobe, als wolle das Schicksal mich prüfen. Schicksal, dachte er.
Der Morgen war von weißem, eiskaltem Nebel verhüllt, aber der Nordost trieb die Schwaden auseinander. Am frostklaren Himmel strahlte die Wintersonne und warf hinter jeden Weidenbuschblaue Schatten. Stundenlang wanderten sie durch die verschneite Ebene. Er ging neben ihr her, aber er war ihr fern und hing seinen Gedanken nach. Schicksal, dachte er wieder, das ist jenes Große, Dunkle, Unbekannte, dem wir Menschen ausgeliefert sind … Sie erzählte aus ihrem Leben. Als Kind habe sie tanzen gelernt, als Sechzehnjährige sei sie mit einem
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