Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
bewältigen. Vielleicht, so spekulierten wir, treffen wir uns ja in Santiago wieder, wenn Ludger ein paar Tage nach mir eintrudelt. Ich selbst fühle mich so stark und gefestigt, dass ich nicht glaube, noch in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen, zumindest nicht in hausgemachte. Vor Verletzungen bin ich natürlich nicht gefeit.
Die „ersten“ Schritte alleine waren ungewohnt. Schnell nahm mich die nun nicht mehr ganz so monotone Gegend auf. Die Weiten der flachen Hügellandschaft mit ihren vielen Kornfeldern wurden zumindest vorläufig immer öfter unterbrochen. Meine etwas gedrückte Stimmung wurde von den kleinen Ortschaften am Weg, die halben Geistersiedlungen glichen, noch verstärkt. Es mochte gerade keine rechte Freude aufkommen. Ich versank in Gedanken, beschäftigte mich immer intensiver mit dem Ankommen in Santiago. Was wird es bewirken? Was wird es mir bescheren? Ich wurde ein bisschen wehmütig, als ich daran dachte, dass der Camino dort endet. Dieser so lieb gewonnene Weg ist dann nicht mehr das Ziel. Was kommt danach? Fragen, die ich noch nicht beantworten kann – und auch nicht will! Noch bin ich mitten auf dem Weg und lange nicht in Santiago! Was danach kommt, wird sich finden! Nur in einem bin ich mir sicher, ich werde immer ein Pilger bleiben und sicher viele weitere Wege zu Fuß beschreiten. Dessen Ziel muss dann nicht mehr zwangsläufig Santiago heißen. Nur der Weg zählt! Wer einmal geht, wird immer gehen, heißt es nicht umsonst. Es könnte auch heißen, wer einmal die Pfade abseits des gewohnten Lebens beschritten hat, kehrt immer wieder darauf zurück. Santiago war vielleicht gar nie das Ziel, vielmehr ist der Weg dorthin womöglich gerade erst der Beginn meiner Reise. Wie sie ausgeht, wo sie endet, weiß nur Gott allein. Es ist auch gar nicht wichtig, dass ich an dem Punkt, an dem ich gerade stehe, das weiß bzw. erfahre. Ich weiß nur, dass es nicht wichtig ist, wieder dorthin zurückzukehren, wo ich schon einmal war. Es gibt nichts mehr, nach dem es zu streben gilt, nicht in materieller, nicht in beruflicher Hinsicht. Vielleicht ist dies ja bereits die wichtigste Erkenntnis meines Jakobsweges. Wir werden sehen. Ich werde jedenfalls aufhören, krampfhaft nach Antworten auf immer neue Fragen zu suchen. Wenn die Zeit reif ist, werde ich sie schon bekommen. Und wenn nicht? Tja, dann kann ich es auch nicht ändern. So what?
Wir müssen eben nicht alles wissen und schon gar nicht so tun, als ob wir alles wüssten. Wir Menschen sind nun mal unvollkommen, voller Fehler, warum sollten wir das zu kaschieren versuchen. Feilen wir lieber an den Dingen, die uns wieder zu einem verträglicheren Miteinander führen, dann relativiert sich auch der Wert der Wünsche, die uns zwar wichtig erscheinen, in Wirklichkeit aber nur egoistischen Interessen erwachsen und auf eine temporäre Bedürfnisbefriedigung abzielen. Tja, wenn das doch nur so einfach wäre. Was soll‘s, ich schweife mal wieder ab, es geht sowieso jeder den Weg, den er für richtig hält. Ich bleibe einfach auf meinem und glaube fest, dass es ein guter ist, auch wenn er noch von vielen Schlaglöchern, Baustellen und Umwegen geprägt sein sollte.
In Villafranca Montes de Oca, einem überaus schäbigen Ort, lenkte ich meine Gedanken wieder ins hier und jetzt. Eine leckere Tasse Milchkaffee tat Not. Neben dröhnenden und stinkenden LKW auf dem angrenzenden Parkplatz ließ ich mich für ein paar Minuten in einen Plastikstuhl fallen, gönnte mir noch eine zweite Tasse und suchte dann das Weite, nur weg – ein unsympathisches Fleckchen Erde! Erst ging es steil, später gleichmäßig beständig aufwärts bis in 1.162 Meter Höhe. Die Montes de Oca, eine wenig schöne Waldlandschaft mit flachem Bewuchs und teilweise etwas Buschland erwartete mich. Sehr breit schlängelte sich der Weg durch dieses unwirtliche Gebiet, soweit das Auge reichte, sah ich ausschließlich dunkelgrünen Wald, nur die etwas entfernt verlaufende Landstraße zog sich wie ein Band hindurch. Düstere und tief hängende Wolken bildeten eine Kulisse, als wollten sie eine Drohung aussprechen. Da wundert es mich gar nicht, dass hier früher Räuber und Banditen ihr Unwesen trieben, dabei Angst und Schrecken unter den Pilgern verbreiteten. Diese Gegend ist bestens geeignet für solche Schauergeschichten. Für alle Pilger der Gegenwart, die in negativer Grundstimmung hier durchmarschieren, sind die Oca-Berge alles andere als ein mentales Aufbauprogramm, zumindest so,
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