Abenteuer Jakobsweg - Höhen und Tiefen einer langen Reise (German Edition)
quatschten unentwegt, während die meisten anderen in sich versunken ihres Weges zogen. So kurz vor Santiago war fast jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, überlegte sich wahrscheinlich allerlei mögliche Szenarien für die Ankunft. Ich war heute diesbezüglich ziemlich entspannt, wollte und will es einfach auf mich zukommen lassen, keine große Erwartungshaltung aufbauen, die dann womöglich zu Enttäuschungen führt. Ich lief schnell zu Jos auf, mit dem ich meist wortlos bis Mélide ging. Dort machte er eine längere Rast, wollte auch ganz in der Nähe Quartier beziehen, um morgen früh hier ein Päckchen bei der Post abholen zu können. Ich schenkte Mélide keine größere Aufmerksamkeit. Abgesehen vom angeblich besten Pulpo Spaniens gibt es hierfür auch keinen Grund.
Ohne Kompanie ließ ich bei Sprühregen die Stadt hinter mir, folgte dem gelben Pfeil durch unspektakuläre Natur und nur teilweise noch urigen Dörfern. Nein, dies ist sicher auch bei Sonnenschein nicht der schönste Teil der Region! Dafür verwöhnten erste Eukalyptuswälder mit ihrem kräftigen Duft meine Nase. Ist doch auch nicht schlecht! Mit Arzúa durchquerte ich eine Stadt, die keiner Erwähnung bedarf, außer dass sie mir ein leckeres Mittagessen bot. Bereits um 14 Uhr standen vor einer der Herbergen zahlreiche Pilger und warteten auf Einlass. Ich war gerade erst so richtig warm gelaufen, nicht zum ersten Mal bei so einer Witterung. Hat man sich erst mal an den Regen gewöhnt, macht er einem praktisch nichts mehr aus.
Hinter Arzúa war ich nun völlig ohne Begleitung unterwegs. Scheinbar sind alle Pilger, mit denen ich am Morgen unterwegs war, in einer der örtlichen Herbergen geblieben. Allein auf matschigen Pfaden machte mir das Wandern nun wieder richtig Spaß, die Automatismen griffen. Es deutete sich an, dass ich Santiago heute sehr nah komme, sich dadurch meine Ankunft dort bereits auf morgen vorzieht. Mit jedem gegangenen Kilometer manifestierte sich diese Erkenntnis. Es wäre Blödsinn, eine Distanz von dann noch unter 30 km auf zwei Tage aufzuteilen, bestätigte ich mir. Frei von Sorgen, Nöten und Erwartungen erkundigte ich mich in Brea nach einer Unterkunft – zu teuer! Ein paar Kilometer weiter in Santa Irene schaute ich mir die Albergue an – ging gar nicht! So schäbig wollte ich die letzte Nacht vor Santiago nicht hausen, zumal es weder zu Essen noch zu trinken gab. Als ich auch in A Rúa nicht fündig wurde, begann ich, an Vézelay zu denken. Ich werde doch wohl nicht so lange weitergehen, bis ich plötzlich in Santiago bin, schoss es mir durch den Kopf. Ich war überzeugt, dass meine Füße mich sogar bis dorthin tragen würden. Andererseits wären 70 km an einem Tag doch des Guten etwas zu viel, zumal ich nicht vor 22 Uhr da sein könnte. Und was wäre das für eine Ankunft, nass und schmutzig bei Dauerregen im Dunkeln!? Dann womöglich noch Probleme bekommen, eine Unterkunft zu finden. Nein, das ging gar nicht! Ich verwarf diesen absurden Gedanken ganz schnell wieder, um einen Moment später daran weiterzuspinnen. Warum eigentlich nicht? Hätte das nicht was, nach über 2.400 km die letzten 70 km an einem Tag zurückzulegen und womöglich die erste Nacht in Santiago als Obdachloser zu verbringen, mir die Stunden in irgendwelchen Bars um die Ohren zu schlagen? Es wäre garantiert eine der außergewöhnlichsten Ankünfte, versuchte eine andere Stimme, mir Lust auf dieses verwegene Unterfangen zu machen. „Nein, nein und noch mal nein! Ich fange jetzt nicht an, abzudrehen. Wie bekloppt wäre das denn? Ich will keine verrückten Geschichten schreiben, sondern den Weg MORGEN angemessen und würdig zu Ende bringen!“ Mit diesem „internen“ Machtwort holte ich mich auf den Boden zurück und beendete meine abgehobenen Gedankenspiele. So was Beklopptes, ein bisschen zelebrieren möchte ich meine Ankunft schließlich doch!
Auch in Pedrouzo wurde ich zunächst auf die Probe gestellt. Die Pension am Ortseingang war voll, die Albergue mir nicht gut genug! Ich stellte fest, ich war anspruchsvoll heute. Ich wollte ein gescheites Zimmer mit vernünftigem Bad und Platz genug, meine nassen Klamotten bis morgen trocken zu bekommen. Die Dame in der Albergue nannte mir eine Pension in einem Kilometer Entfernung. Dort versuchte ich mein Glück – und wurde fündig. In einem ganz normalen Einfamilienhaus war ein Platz für mich frei. Ein Zimmer ganz für mich alleine, genau so soll es heute sein! 19 Uhr war es
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