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Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters

Titel: Abenteuer meines ehemaligen Bankberaters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: T Rammstedt
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hoffentlich nicht auch noch an. Unter Ihren
geschlossenen Lidern bewegen sich die Augen. Offensichtlich träumen Sie, und
ich beneide sie darum.
    Wind kommt auf. Zu meiner Linken liegt der tote Hund, zu meiner
Rechten Sie, zweifellos lebendig, wenn ich auch nicht weiß, wie sehr. Der
Himmel hat sich bedeckt, ist jetzt genauso dunkelgrau wie der See, und wenn ich
nur diesen Moment wahrnehmen könnte, nur dieses Bild im Hier und Jetzt, wäre es
sehr, sehr friedlich.
    In Ordnung, Herr Willis, fünf Minuten noch, keine Sekunde länger.
Nur damit wir ein paar Kräfte sammeln können. Und zumindest die fünf Minuten
lang will ich jetzt bitte ebenfalls träumen. Ich will die Augen schließen und
exakt das Gleiche träumen wie Sie. Vielleicht sind wir im Traum auch hier, auf
genau diesem See, in genau diesem Boot, genau dieser Morgendämmerung.
Vielleicht sind wir zum Angeln rausgefahren, vielleicht angeln wir im Traum
jeden zweiten Samstag. Vielleicht geben wir uns große Mühe, nichts zu fangen,
weil das nur die Ruhe stören würde. Die Ruhe wäre uns in unserem Traum sehr wichtig.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Dass ich unbedingt auch einmal seinen Bruder kennenlernen
müsse, sagte mein ehemaliger Bankberater, an den würde ich ihn nämlich sehr
erinnern. Dann suchte er in seiner Brieftasche lange nach einem Foto von ihm,
fand aber keines und zeigte mir stattdessen einen entwerteten Fahrausweis, den
der Bruder bei seinem letzten Besuch angeblich benutzt hatte. »Als ersten
Eindruck«, sagte er.

Sehr geehrter Herr Willis,
    es gelingt einfach nicht, ich kann nicht träumen. Ich kann
noch nicht einmal die Augen geschlossen halten. Ich kann mich nicht einfach so
der Realität verweigern wie Sie, die ist viel zu aufdringlich, die fragt
ständig, wie ich vorankomme, die schreibt ständig letzte Mahnungen, mit der
muss man ständig einen neuen Termin vereinbaren, die übernachtet ständig bei
ihrer Schwester, die bleibt einfach nicht stehen, so laut man auch ruft.
    Und Sie müssen auch schleunigst mal anfangen, die Tatsachen zu
akzeptieren, Herr Willis. Sie müssen dem Hier und Jetzt ins Auge sehen. Hier
ist der See, hier sind die Wellen, hier ist Ihr rasselnder Atem, hier sind
unsere zerkratzten Arme, unsere aufgerissenen Lippen, hier ist unser
unendlicher Durst. Wir müssen uns diesem Hier und Jetzt stellen, wir müssen
aufpassen, wir müssen hellwach sein, vorausschauend sein, sonst ist das nächste
Hier und Jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach ein sehr enges Hier und ein sehr
langes Jetzt. Fürs Träumen steht einfach zu viel auf dem Spiel.
    Also kommen Sie endlich zu sich. Verlassen Sie sich bloß nicht
darauf, dass ich schon alles regeln werde. Denken Sie etwa, ich sei gern hier?
Denken Sie, ich hätte nichts Besseres zu tun, als uns vor dem Unglück zu
bewahren? Da fallen mir haufenweise Dinge ein, die ich lieber täte, haufenweise.
Und selbst wenn nicht: Halten Sie es für besonders fair, dass ich mich hier als
Einziger mit der Realität auseinandersetze? Ausgerechnet ich? Eigentlich sollte
ich überhaupt nicht hier sein. Ich hatte nicht geplant, mich so auszuliefern.
Ich hatte gedacht, Sie kommen allein aus der Bank heraus, mit irgendeiner Ihrer
filmreifen Ideen, und ein paar Wochen später fände ich dann eine Postkarte von
Ihnen im Briefkasten, aus Portugal, aus der Karibik, meinetwegen auch aus
Hollywood, die mir zeigt, dass alles gut ausgegangen ist. »Kommen Sie mich doch
bald mal hier besuchen«, steht da, und ich lächele, zu Hause am Schreibtisch,
im Warmen, in Sicherheit, und spiele
kurz mit dem Gedanken, Sie wirklich bald zu besuchen in Ihrem neuen Leben. Aber
natürlich werde ich das nicht tun. Und nicht nur, weil sich alte und neue Leben
selten gut verstehen, sondern weil ich gern da bleibe, wo ich dann bin, weil
ich nichts weniger brauche als eine Luftveränderung.
    Und jetzt sitze ich nicht am Schreibtisch, sondern hier mit Ihnen in
diesem Boot. Mein altes Leben habe ich vollkommen aus den Augen verloren, und
ein neues ist noch längst nicht in Sicht. Das hat noch nicht angefangen.
Anfangen kann es schließlich erst, wenn das hier vorbei ist.
    Also los, Herr Willis. Bringen Sie es zu Ende, so glücklich wie
möglich.
    Ihr
    Tilman Rammstedt
    Mein ehemaliger Bankberater geriet manchmal ins Grübeln.
»Vielleicht ist auch alles ganz anders«, sagte er und schaute dabei knapp an
mir vorbei. »Wahrscheinlich aber nicht«, sagte er dann, und ich ärgerte
mich darüber, dass mich das enttäuschte.

Sehr geehrter Herr

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