Aber bitte mit Sake
sich schlafend. Der Mann neben mir liest. Nach einigen Stationen fange ich an, mich zu langweilen, und schiele hinüber in sein Comicheft. Ich lehne mich ein wenig nach links, um besser sehen zu können. Mein Blick fällt auf gezeichnete, nackte, kopulierende Figuren. Mein Sitznachbar liest tatsächlich einen Porno. Mitten in der U-Bahn, unter den Blicken aller. Dabei, so dachte ich zumindest, hat der Japaner doch eigentlich vor nichts so viel Angst wie vor dem Gesichtsverlust.
An der nächsten Station steige ich aus. Auf gut Glück. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin, aber irgendwas wird es hier schon zu sehen geben. Shibuya steht auf dem Schild an der Station. Also nicht Shinjuku, aber was soll’s. Der Masse folgend, stolpere ich hinaus auf die Straße. Dort trete ich zur Seite und lasse den Menschenstrom an mir vorbei über den Platz in Richtung Kreuzung ziehen. Es hat zu schneien begonnen. An der Bordsteinkante bleiben die Menschen stehen, eine große Traube uniformer Japaner mit durchsichtigen Regenschirmen in der Hand. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite das gleiche Bild. Als würden sie sich spiegeln. Sobald die Ampel auf Grün schaltet, setzen sie sich in Gang, alle gleichzeitig, an allen vier Ecken, geschäftig eilen sie von Osten nach Westen, von Westen nach Osten, von Nord nach Süd und Süd nach Nord, bewegen sich über die Alle-Gehen-Kreuzung, mit gesenkten Blicken, ohne sich anzusehen. Ein Sinnbild für die Geschäftigkeit und Umtriebigkeit der Großstadt, die man mit Tokio verbindet. Von der Ruhe und Beschaulichkeit, die ich im Umfeld meines Hotels wahrgenommen habe, ist hier nichts zu spüren. Schließlich bleibe ich vor einer Hundestatue stehen. Ein Denkmal für ein Tier? Bronzen von Staatsoberhäuptern und von mir aus auch die eine oder andere Skulptur eines gefallenen Samurai, das mag ja alles verständlich sein. Aber weshalb setzen die Japaner einem Hund ein Denkmal? Nach einem Blick auf die Uhr schicke ich Ellen eine SMS . Ellen, was hat es mit der Hundestatue an der Bahnstation Shibuya auf sich? , tippe ich in das Telefon. In Deutschland ist es jetzt schon spät am Abend, und ich bin nicht sicher, ob sie und ihr Mann Christopher noch wach sind. Aber gerade als mein Handy in das Innenfach stecke, klingelt es. Ellen.
»Hallo?«
»Dana, ich bin’s! Ich war noch wach und habe gleich nachgeguckt! Wie ist es denn?«
»Ach, Ellen, wie schön, deine Stimme zu hören! Tokio ist spannend, aber auch fremd.«
»Passt du auch gut auf dich auf?« Ellen klingt besorgt.
»Na, klar! Gefährlich ist es hier überhaupt nicht. Man kann sich auch als Frau alleine bedenkenlos in der Stadt bewegen. Nur anders ist es eben. Ich fühle mich ein wenig einsam, vor allem weil die Japaner so kontrolliert sind; ich kann sie weder verstehen, noch an ihrer Mimik ablesen, was in ihnen vorgeht. Aber das wird schon! Also, schieß los. Was hat es mit dem Hund auf sich?«
»Also. Hachiko hat in den Zwanzigerjahren gelebt und war wahrscheinlich die treueste Seele, die es je gab. Er hat einem Professor gehört und sein Herrchen jeden Tag am Bahnhof Shibuya abgeholt. 1925 starb Hachikos Besitzer an einer Hirnblutung. Seine Frau hat dann Tokio verlassen und ist mit Hachiko fortgezogen, aber der Hund ist ausgerissen und weiterhin jeden Tag zum Bahnhof gekommen, in der Hoffnung, sein Herrchen abholen zu können.«
Während ich ihr zuhöre, laufe ich eine Kurve, zurück in den Bahnhof, wo ich eine Fahrkarte ziehe, um mich auf den Weg zu meinem eigentlichen Ziel, Shinjuku, zu machen.
»Wie traurig!«, seufze ich und werde ganz wehmütig. »Und wie ging es mit Hachiko weiter?«
»Ganz gut. Die Menschen, die am Bahnhof von Shibuya arbeiteten, haben sich um ihn gekümmert. Als man herausfand, dass er einer der letzten reinrassigen Akita-Hunde war, wurden zahlreiche Artikel über ihn geschrieben, und Hachiko gelangte zu einer gewissen Berühmtheit. Er wurde für die Menschen in Tokio geradezu zum Sinnbild des treuen Gefährten. Jahrelang kam er jeden Tag zurück, das muss man sich mal vorstellen! Mitte der Dreißigerjahre, da hat der Hund noch gelebt, hat man ihm dann ein Denkmal gesetzt. Und als er später tot aufgefunden wurde, schrieben die Zeitungen im ganzen Land darüber. Reicht dir das als Auskunft?«
»Ja, danke. Aber weshalb sich eine ganze Nation mit einem treuen Hund identifiziert, verstehe ich nicht ganz.«
»Weißt du, Christopher, ganz der Soziologen-Gatte, meinte gerade, es könnte etwas damit zu tun haben,
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