Aber dann kam der Sommer
bei ihm zu sitzen, ohne einen Laut von mir zu geben. Ich ging zum Flügel.
„Bitte, spielen Sie weiter Bach!“
Er sah mich an – oder vielmehr an mir vorbei.
„Weiter? Was denn? Ich spiele nur Bach.“
„Bitte, spielen Sie weiter Bach!“
„Für Sie?“
„Für mich – oder für Sie selbst, wenn Sie wollen. Ich kann jedenfalls zuhören.“
„Sie verstehen Bach nicht.“
„Mag sein! Aber man kann doch auch etwas lieben, ohne es zu verstehen.“
Die Finger liefen quirlend über die Tasten. Plötzlich wandte er den Kopf zu mir um. „Was, in aller Welt, wissen Sie überhaupt von Bach?“
„Daß seine Musik mich anspricht!“
„Anspricht – anspricht! Bachs Musik ist himmelhoch erhaben über jede andere Musik. Sie ist nackt. Sie ist entkleidet. Sie ist frei von jedem Ornament, jeder Verzierung. Sie ist sich selbst genug. Sie ist nicht gewalttätig wie die Musik von Wagner, nicht so weitläufig wie von Beethoven, nicht sentimental wie von Schubert, nicht so effektvoll wie von Chopin – sie ist Musik. Die Apotheose der Musik. – Sie ist vollkommen.“
Es war, als nähme er seine ganze Kraft zusammen, während seine Finger die Tasten schlugen und dem Flügel seinen vollen Wohlklang abverlangten. Niemals habe ich dieses Präludium von einem Menschen so spielen hören wie von Doktor Bogard. Als das Stück zu Ende war, schlich ich hinaus. Ich hatte ein Erlebnis gehabt. Und ich hatte Doktor Bogard kennengelernt. Es war die Mühe wert, näher mit ihm bekannt zu werden.
Im Wintergarten war die Stimmung inzwischen auf den Höhepunkt gestiegen. Der Bruder von Frau Bogard war gekommen, in strammer Uniform. Nach einer Stunde kannte ich seinen ganzen Wortschatz und seinen leicht überschaubaren Interessenkreis.
Gegen Abend erschien auch Christopher Brahmer, der Rechtsanwalt. Nach der Beschreibung seines Vaters hatte ich mir Wunders was von ihm erwartet. Um so enttäuschter war ich nun. Der junge Herr Christopher hatte Sommersprossen in seinem blassen Gesicht, eine Hornbrille vor seinen rotgeränderten Augen und eine harte, abgehackte Sprechweise, die entsetzlich irritierend wirkte. Dazu kam noch, daß er keine Bemerkung machen konnte, ohne sie in belehrendem Ton hervorzubringen. Der einzige Akademiker der Familie! dachte ich. Alle lauschten auf das, was der Herr Akademiker sagte. Er irritierte mich maßlos. Ich brannte geradezu darauf, ihn mal ein bißchen zu ducken.
Auch mich würdigte er mit ein paar Bemerkungen. Er fragte, wie es mir in der Stadt gefiele, und was ich gemacht hätte, bevor ich herkam, ob ich schon jemanden kennengelernt hätte, seitdem ich hier sei, und so fort. Alles wurde in dem gleichen Ton hervorgebracht, wie wenn alte Tanten einem Kind auf den Scheitel klopfen und fragen: „Wie alt bist du denn schon?“ und „In welche Klasse gehst du denn?“ Offensichtlich vermutete er bei mir ein mittelgroßes Hühnergehirn.
Louise zeigte mir, wie die Bridgetische aufgestellt werden mußten und was alles zum Spiel gehörte wie Karten, Blocks zum Aufschreiben, Bleistifte, Aschenbecher sowie Tischchen zum Abstellen der Gläser und für das Obst. Ich glaube, ich erwies mich als gelehrige Schülerin.
Tante Agnete war in ihrem Element. Sie spielte mit ihrer Schwester Antoinette zusammen, während der dicke Onkel Toralf den Leutnant als Partner hatte. Die Bridgeintelligenz muß eine Intelligenz besonderer Art sein, die sozusagen einen eigenen Raum im Gehirn beansprucht, der mit der Intelligenz im landläufigen Sinne nichts zu tun hat. Jedenfalls hörte ich, wie Leutnant Thorne, Frau Bogards Bruder, wegen seines ausgezeichneten Spiels gelobt wurde.
Am zweiten Tisch waren der Doktor und seine elegante Frau Partner und hatten Direktor Lindeng und den Rechtsanwalt als Gegenspieler. Im kleinen Zimmer nebenan saßen Frau Hanna Lindeng, Frau Else und ich. Es war wie ein erholsames Aufatmen nach einer großen Anstrengung. Endlich konnte man sich so geben, wie man war.
„Nun, wie geht es dir, Elsekind?“ fragte Frau Hanna und legte ihre Hand weich auf die von Frau Else. „Wann ist es denn soweit?“
„In ein paar Wochen, denke ich.“
„Und du bist ganz frisch und munter?“
„Aber ja, gewiß, liebe Tante!“ versicherte Else mit einem Lächeln, das nicht bis zu den Augen hinaufreichte.
Frau Hanna betrachtete sie einen Augenblick, so, als wollte sie noch etwas sagen, unterließ es dann aber. Sie wandte sich mir zu.
„Sie müssen einmal zu mir kommen, kleine Unni, Sie und Else, so für ein
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