Aber dann kam der Sommer
Burgunder nachgießen wollte, „nein, im Ernst…“
„Papperlapapp, hier wird nicht im Ernst gesprochen!“ scherzte Onkel Toralf. Sein rosenrotes Gesicht leuchtete vom Burgunder und der warmen Suppe. „Siehst du nicht, daß Tante Hanna mit dir anstoßen will?“
Ich mußte Tante Hanna zutrinken – sie trank übrigens nur Mineralwasser – , und ich hörte, quer über den Tisch, wie sie mit ihrer milden Stimme sagte:
„Ich freue mich so für Agnete, daß sie Jugend ins Haus bekommen hat. – Sie haben hier eine große Aufgabe, liebes Kind!“
Ich wurde mit einem Schlage ernst. Eine große Aufgabe? Dieser Gedanke war mir noch nicht gekommen. Nicht einen Augenblick lang war mir eingefallen, ich könnte andere Aufgaben haben, als Tante Agnete Gesellschaft zu leisten und ihr mit kleinen Diensten zur Hand zu gehen.
Aber es gelang mir nicht, meine Gedanken auf irgendwelche großen Aufgaben zu konzentrieren. Ich fühlte mich so merkwürdig müde im Kopf. O weh, da hatte ich gewiß mehr Wein getrunken, als ich vertragen konnte. Als ich das nächste Mal den Wein ablehnte, merkte ich, wie Direktor Lindeng mir einen flüchtigen Seitenblick zuwarf.
„Vielleicht möchten Sie auch lieber Mineralwasser trinken?“ schlug er vor und winkte Louise heran.
Das perlende Wasser brachte wieder Klarheit in meinen verwirrten Geist. Ich lächelte dem vernünftigen Direktor dankbar zu. Da bemerkte ich plötzlich etwas in seinem Blick, das abstoßend auf mich wirkte. Es war überhaupt etwas in seiner ganzen Person, das mir nicht gefiel, und das ich erst jetzt entdeckte, nachdem ich das eiskalte, perlende Wasser getrunken hatte. Die Wirkung des Weines war verflogen, und nun sah ich in Lindeng nicht mehr den erfahrenen Gesellschafter, den höflichen Kavalier, sondern ich sah den selbstzufriedenen Mann, routiniert und jeder Situation gewachsen, ob es nun galt, alte Tanten zu unterhalten oder deren ungewandte Nichten, oder einzugreifen, um eine unerfahrene junge Dame daran zu hindern, zuviel Wein in sich hineinzugießen. Er schien in jeder Hinsicht erfahren und Herr über jede Lage zu sein. Aber was lag hinter dieser liebenswürdigen Schale? Wie sah es in seinem Hirn aus – und im Herzen?
Die Älteren wollten Mittagsruhe halten. Sie verteilten sich rundum im Hause auf den Diwans und den Sofas, und Louise und ich liefen umher und brachten Decken und Kissen. Ich mußte Nipp im Garten spazierenführen. Das war mir recht, denn ich selber hatte ebenfalls frische Luft dringend nötig. Ich war satt und hatte einen schweren Kopf.
Direktor Lindeng und Frau Else begleiteten mich. Doch plötzlich drehte er sich zu ihr um. „Nein, Elslein, du mußt dich auch ein wenig hinlegen, das ist das beste für dich.“
„Ach, ich würde lieber einen kleinen Gang machen, Ditlef.“
„Nein, mein Schatz, du mußt dich jetzt unbedingt schonen. Gewiß darfst du dich in Fräulein Unnis Zimmer legen. Dort bist du ungestört und kannst dich ausruhen.“
Die Worte klangen sehr freundlich, er umsorgte ja rührend seine kleine, ungraziöse Frau. Und doch lag etwas in seiner Stimme, das wie eine Anordnung, ja wie ein Befehl klang. Nun ja, jedenfalls fügte sich Else und ging. Zum Glück besaß ich noch so viel Klarheit im Kopf, daß ich ihr folgte und sie zudeckte.
„Tausend Dank!“ flüsterte sie. Ihre Augen waren feucht.
So wanderten wir durch den Garten, Direktor Lindeng, Nipp und ich. Es war ein prachtvoller alter Garten mit Rotbuchen, riesengroßen Rhododendronbüschen, Buchsbaum und persischem Flieder – das heißt, Direktor Lindeng erklärte mir, es sei persischer. Jetzt, gegen Ende September, hatte sich das Laub schon ziemlich stark gelichtet. Der Garten war sehr groß, mit alten, verschlungenen Wegen und Hecken mit kleinen Nischen. Wie herrlich müßte man hier eine Gartenparty veranstalten können!
Ganz hinten, am weitesten vom Haus entfernt, lag ein Stallgebäude.
„Hier habe ich als Junge am liebsten gespielt“, berichtete der Direktor. „Das Haus gehörte ja meinen Großeltern, Tante Agnetes Eltern also. In dem Stall standen die Kutschpferde. Mein Großvater hatte ein paar Wagen und ein Reitpferd – mal sehen, ob die Tür offen ist – o ja, schauen Sie, da steht noch der alte Landauer. Du lieber Himmel, war das ein Ereignis, wenn im Mai die erste Ausfahrt unternommen wurde!“ Er betrat das Gebäude und blickte sich um. „Viel Platz ist ja nicht mehr, seitdem hier eine Garage eingebaut worden ist. Aber die Ställe sind noch da. –
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