Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
schlugen. Nur noch wenige Meter. Sie hob den Ast. Modrige Blätter klebten daran und lösten sich auch nicht, als sie ihre Waffe schüttelte.
Jetzt trennte sie nur noch ein mit Moos bewachsener Wassergraben von Johann. Sie nahm einen Anlauf und sprang. Ihre Muskulatur war noch warm – vom langen Laufen. Das war gut. Sie war beweglicher, konnte schneller und härter zuschlagen. Sie würde zuschlagen. Bis er tot war. Der Mann mit der albernen Maske. Es ging darum, ihr Kind zu retten. Alles andere war unwichtig. Ob sie sich verletzte, ob sie starb, ob der andere starb. Es ging nur noch um Johann. Sie hatte ihre Chance. Endlich konnte sie was tun.
Die letzten Meter lief sie.
Ihre Augen mussten die Dunkelheit hinter der Windschutzscheibe erst durchdringen. Doch dann wusste sie – vorne saß niemand.
Marie lief um den Van herum. Sie gab sich keine Mühe mehr, leise zu sein. Sollte der Kerl sie doch hören. In einer Sekunde würde sie bei ihm sein und so lange auf ihn einschlagen, bis er sich nicht mehr rührte.
Der Griff war eiskalt. Marie drehte ihn. Die Heckklappe blieb zu.
Sie versuchte es in der anderen Richtung. Auch das brachte nichts. Und es dauerte alles zu lange. Was war, wenn er sich ertappt fühlte und sich auf Johann stürzte?
Marie riss die Klappe hoch. Sie sprang auf – so schnell, dass sie ihr gegen die Stirn schlug. Marie spürte die Kälte des Metalls, aber keinen Schmerz. Schmerz interessierte sie nicht. Selbst eine Kugel im Leib würde ihr nichts ausmachen, sie war nicht zu stoppen.
Marie wich etwas zurück, damit sie die Heckklappe ganz öffnen konnte.
Sie schaute in ein dunkles Loch. Es stank. Nach ungelüftetem Schlafzimmer.
Marie sah zwei Füße. Nackt. Sie kamen unter einer Decke hervor. Große, breite Männerfüße. Unter der Decke die Konturen von zwei Menschen. Einer groß, einer klein.
Marie schlug zu. Der Ast blieb am Chassis des Vans hängen und brach ab. Marie schlug mit dem Stummel erneut zu. Sie zielte auf die Männerfüße, auf die großen, schmutzigen Männerfüße.
Der Schlag traf zwar, aber die Füße waren weg. Unter der Decke verschwunden.
Marie bückte sich in den dunklen, stickigen Wagen. Sie holte erneut aus.
Die Decke wurde zurückgeschlagen.
Marie bremste ihren Schlag ab. Der Stummel fiel ihr aus der Hand.
Zu den Männerfüßen gehörte ein Gesicht. Ein Junge. Höchstens achtzehn Jahre. Zottelige Haare, ein Ziegenbart, eingefallene Wangen. Die Augen starrten sie an. In Todesangst.
Marie zog die Decke weg. Wo war Johann?
Sie war auf alles gefasst. Dass ihr Kind leblos war. Oder nackt.
Aber nicht darauf, dass eine totenbleiche Gestalt zum Vorschein kam. Im rosafarbenen BH und ohne Slip. Dafür in Turnschuhen. Ein Mädchen von höchstens sechzehn Jahren. Das hübsche Gesicht hatte sich aufgelöst. In den Augen spiegelte sich Panik, die Wangen waren von einem Tränenfilm überzogen. Das Mädchen schrie nur noch. Es hörte gar nicht mehr auf zu schreien.
Marie sagte: »Entschuldigung.« Aber niemand hörte sie. Das Mädchen schrie so laut, dass die Eichelhäher kreischend aus den Baumwipfeln flohen.
Als der schwarze Van vorfuhr, kam Robert barfuß aus dem Haus gerannt. Er sah aus, als wäre er verrückt geworden.
Marie war so durcheinander, dass sie nicht bedachte, was geschehen würde, wenn die zwei sie nach Hause brachten.
Der Junge kam Marie zuvor. Er stieg aus, ging um den Wagen herum und öffnete ihr die Tür.
Marie konnte gerade noch verhindern, dass Robert auf den jungen Mann losging. »Tut mir leid, Robert. Ich konnte nicht mehr weiterlaufen. Sie haben mich nach Hause gebracht. Es hat nichts mit Johann zu tun. Es ist nur zufällig ein schwarzer Van.«
Robert hielt inne. Er bebte, schaute sie an, dann den Jungen. Dann wurde er grau im Gesicht. Er drehte sich um und ging langsam ins Haus zurück.
Dem Jungen stand immer noch die Angst im Gesicht. Er hatte ein schlechtes Gewissen, deshalb hatte er auch angeboten, sie nach Hause zu bringen. Marie nahm an, dass der Van seinem Vater gehörte und er ihn heimlich für den Ausflug mit dem Mädchen benutzte. Deshalb wollte er auch keine Anzeige machen, wie er ständig betonte. Es sei ja auch nichts passiert, sagte er selbst, Marie habe niemanden verletzt, und die Freundin, die apathisch im Fonds saß, hatte sogar irgendwann aufgehört zu schreien.
Marie wusste, dass das Mädchen nie wieder mit dem Jungen in den Wald fahren würde. Aber das sagte sie ihm nicht. Sie war heilfroh, dass er sie nach Hause brachte
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