Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
kommt es allerdings nicht. Da besinnt sich das Kind, denn es spürt die Bedrohung der Welt, und es ahnt, was die Mutter zu Hause durchmacht.
Aber Mutter weinet sehr.
Nun kamen Marie doch die Tränen.
Weil sie hat kein Hänschen mehr.
Aber Mutter weinet sehr. Weil sie hat kein Hänschen mehr.
Marie legte den Kopf auf die Unterarme. Sie schluchzte erbärmlich. Aber es tat ihr gut. Es ging ihr wie der Mutter des kleinen Hänschens. Die Tränen brachten ihr den verlorenen Sohn zurück.
Etwas war an ihren Waden. Etwas Weiches. Marie hob den Kopf.
Der Dackel Ludwig hob seine Schnauze und piepste. Die Tiere hatten einen sechsten Sinn für Stimmungen. Wahrscheinlich hatte der Dackel gespürt, dass mit Marie etwas nicht stimmte, und war in Johanns Zimmer gekommen. Sie hatte ihn nicht gehört.
Marie streichelte den dunkelgrauen Nacken. Sonst ekelte sie sich immer ein wenig vor den Dackeln. Sie hatten etwas Unterwürfiges und gleichzeitig Verschlagenes. Nun aber sah sie in den feuchten Augen des Tieres eine Art Mitleid. Am liebsten hätte sie Ludwig auf den Schoß genommen – so wie Johann das immer getan hatte. Sicher vermissten die Dackel ihn auch. Er hatte sich immer so liebevoll um sie gekümmert.
Ludwig.
Oder Erhard.
Marie hatte nur noch einen Versuch. Sie sah es als Zeichen des Himmels an, dass ausgerechnet der Dackel Ludwig in diesem Augenblick ihre Nähe gesucht hatte.
Aber Ludwig war ein männlicher Vorname. Als Passwort gab es ihn sicher häufig.
Das gleiche galt für Erhard.
Robert hatte diese Namen gewählt. Nach einem längst verstorbenen Politiker, der früher als Witzfigur galt, weil er mit seiner Leibesfülle das Wirtschaftswunder verkörperte. Marie erinnerte sich noch gut, dass Robert seinem Sohn die Bedeutung der Namen für seine Dackel erklärt hatte.
Also gab Marie LudwigErhard in die Maske von Schüler-VZ ein. Mit zitternden Fingern.
Wenn sie sich täuschte, war sie raus.
Spielte es eine Rolle, ob sie die Namen in Groß- oder in Kleinbuchstaben schrieb? Oder nur groß am Anfang des Wortes?
Nun sah sie die ausgefüllte Maske vor sich.
Sie musste nur noch auf den Button »Einloggen« drücken. Dann entschied sich, ob sie richtig kombiniert hatte.
Marie zögerte noch. Der Dackel jammerte.
Marie umfasste die Maus und klickte auf »Einloggen«.
Es dauerte. Das Bild verschwand für eine Sekunde. Aus, dachte Marie. Das war’s.
Doch dann kam die Meldung von Schüler-VZ .
Sie war drin.
10
Sobald sie von der Arbeit nach Hause kam, setzte sie sich an Johanns Computer. Robert verschwand sowieso meistens gleich im Stall. Der bemerkte gar nicht, dass seine Frau neuerdings jede freie Minute am PC ihres Sohnes verbrachte.
Bevor sie ihre Schüler-VZ -Sitzung begann, rief sie eine Seite mit Rezepten auf. Die blieb geöffnet, während sie auf Schüler-VZ war. So konnte sie mit einem Mausklick auf die unverfängliche Rezeptsite wechseln, sollte Robert einmal in Johanns Zimmer kommen.
Marie suchte nach Kevin. Da sie nicht wusste, auf welche Schule der Junge jetzt ging oder in welcher Region Deutschlands er wohnte, konnte sie keine Suchkriterien eingeben. Sie musste eben alle Kevins dieser Republik durchgehen und hoffen, dass er irgendwann dabei war. Zum Glück hatten die meisten User ihre Fotos eingestellt. Aber es war immer noch eine Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Kevin war ein beliebter Vorname.
An manchen Tagen war Marie so verzweifelt, dass sie ans Aufgeben dachte.
Wer sagte ihr denn, dass Lore Kevin ihren Rat, sich über Schüler-VZ Freunde zu suchen, weitergegeben hatte? Auch wenn Lore ihrem Sohn diesen Weg gewiesen haben sollte – ob Kevin sich dann wirklich angemeldet hatte, war ungewiss. Marie konnte sich denken, dass es für einen Jungen seines Alters nicht einfach war, sich im Internet zu exponieren. Er wusste sicher, dass jeder seinen Eintrag sehen konnte und es so offenbar wurde, dass er keine Freunde hatte.
Würde Kevin das wagen?
Marie suchte weiter. Tag für Tag. Hunderte, Tausende von Kevins klickte sie an und prüfte ihre Fotos. Irgendwann hatte sie das Gefühl, dass alle Kevins gleich aussahen.
War das nicht ein Wahnsinn?
Aber vieles, was sie im letzten Jahr getan hatte, war ein Wahnsinn.
Seit Johann weg war, hatte Marie ihren Schwerpunkt verloren. Sie stocherte nur noch im Nebel. Das war ihr schon lange klar. Aber was sollte sie sonst tun? Wenn sie damit aufhörte, würde sie in eine dunkle Nacht fallen. Dann war es aus.
Sie schaute schon gar nicht mehr richtig
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