Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
angeblich immer ein Auge auf die Gefahren durch das Internet hatte, es nicht geschafft hatte, hier einen Riegel vorzuschieben, wunderte Marie.
Sie schloss für einen Moment die Augen und stellte sich vor, wie Johann, ihr kleiner Johann, das Kind, das sie in ihrem Bauch getragen, das sie geboren hatte als nackten Winzling mit großen, staunenden Augen und Streichholzfingerchen, dass dieser Johann an diesem Computer saß und sich Pornos anschaute. Sicher hatte er dabei den Ton abgestellt, damit seine Eltern nichts mitbekamen.
Eigenartig – aber Johann war ihr fremd geworden. Nicht weil er schon über ein Jahr weg war. Vielmehr weil sie verstand, dass der Johann, den sie geliebt hatte, nicht der ganze Johann war. Der Junge hatte ein Eigenleben. Er hatte Dinge getan, die sie nicht erfahren durfte. Er hatte Vorlieben gehabt, die er vor seiner Mutter verbarg. Diese Porno-Sites zum Beispiel.
Marie wusste, dass das bei jedem Kind so war. Möglicherweise war die Liebe – ob zu einem Kind oder zu einem Partner – immer eine Halluzination. Man setzte sich im Herzen ein Mosaik von Eigenschaften zusammen, die man lieben wollte. Dass die reale Person diesem Bild nicht entsprach oder nicht ganz entsprach, kümmerte den Liebenden wenig. Er liebte das Traumbild in seinem Kopf – oder in seinem Herzen. Denn vernünftig war diese seltsame Erscheinung nicht.
Marie kam ein Symbol bekannt vor. Genau. Das war es. Schüler-VZ .
Sie klickte es an.
Eine Eingabemaske erschien.
Sie musste sich konzentrieren. Johann war ein unkomplizierter Junge, Fantasie war nie seine Stärke gewesen. Er hatte sich sicher unter seinem Namen angemeldet. Marie gab ihn ein. »Johann.«
Nun das Passwort. Das hatte er seiner Mutter nicht verraten. Sie hatte auch keine Anstrengungen unternommen, es von ihm zu erfahren – sonst hätte sie es jetzt.
Marie überlegte.
Sie gab ihren Namen ein. Fehlanzeige.
Der Name des Vaters. Wieder nichts.
Bei einem dritten Fehlversuch wurde Marie womöglich rausgeschmissen. Vielleicht gab es das Konto Johanns schon gar nicht mehr. Und wenn – dann würden sie es sicher löschen, wenn sie mitbekamen, dass jemand sich unberechtigt einzuloggen versuchte.
Beim nächsten Versuch musste Marie also gleich richtig liegen. Sie dachte angestrengt nach. Jetzt war sie wie Fürbringer: Sie analysierte, sie kombinierte, sie ermittelte. Als wäre ihr entführtes und womöglich totes Kind ein fremder Mensch für sie. Ein Fall.
Ging es eigentlich noch um Johann? Oder ging es nicht längst um etwas anderes: um Rache, um Gerechtigkeit oder um Genugtuung? Womöglich ging es ihr auch darum, Kevin vor dem Freund zu retten. Das war doch ehrenwert – aber es hatte nichts mehr mit ihrem Kind, mit Johann, zu tun.
Sie sprang auf, lief durchs Zimmer, glaubte weinen zu müssen, schlug die Hände vors Gesicht. Aber dann blieben ihre Augen doch trocken.
Marie fühlte sich um etwas betrogen. Um den Schmerz.
Das hatte sie dem Freund zu verdanken. Der sollte bezahlen.
Der Gedanke daran erfüllte sie wieder mit Leben. Mit Hass.
Hass war schön. Ein starkes Gefühl. Ein beseelendes Gefühl. Als wäre etwas Fundamentales in ihren toten Körper gefahren und hätte ihn wiedererweckt.
Marie nahm erneut auf Johanns niedrigem Schreibtischstuhl Platz.
Sie versuchte, sich in ihren Jungen hineinzuversetzen.
Wie hatte er sich gefühlt, als er sich bei Schüler-VZ angemeldet hatte? Es war etwas Neues, etwas Fremdes für ihn gewesen. Er hatte das vertraute Heim, die Familie verlassen und war virtuell in die Welt hinausgegangen.
Hänschen klein ging allein in die weite Welt hinein.
Das hatte sie Johann immer vorgesungen, als er noch sehr klein gewesen war.
Stock und Hut steht ihm gut. Hänschen wohlgemut.
Johann hatte schon früh verstanden, dass es in dem Kinderlied um einen Jungen ging, der seinen Namen trug. Deshalb hatte er seine Mutter immer wieder um dieses Lied gebeten. Immer wieder. Marie hatte ihm den Wunsch gern erfüllt. Und Johann hatte ihr mit leuchtenden Augen zugehört – auch wenn sie nicht jeden Ton traf.
Die Geschichte vom kleinen Hänschen hatte ihn jahrelang in ihren Bann gezogen. Wie wahrscheinlich jedes Kind. Marie wusste warum: Es handelte sich um ein Urtrauma. Das eigentlich noch nicht flügge Kind lässt sich vom Reiz der weiten Welt, der Natur, der Ferne, des bunten Abenteuers verführen. Es setzt den zu großen Hut auf und nimmt den zu großen Stock und macht sich auf den Weg – weiter als bis an die nächste Kreuzung
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