Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
all die Jahre in Chemnitz als Phantom gelebt? Was sagen ihre Eltern dazu, dass sie ein Phantom großgezogen haben?«
Fürbringer schien Maries Wut zu verstehen. »Frau Lieser, glauben Sie mir, wir haben alles versucht. Die Kollegen in Chemnitz haben die Familie dieser Lore sehr genau unter die Lupe genommen. Aber die Kollegen im Osten sind sich sicher: Die Familie weiß nichts. Sie haben kein Lebenszeichen von dieser Lore. Die Eltern haben nicht einmal von ihrem Enkelkind gehört.«
»Aber sie werden doch ein Foto von ihrer Tochter haben, oder? Das könnte man doch im Fernsehen zeigen und die Menschen aufrufen, nach dieser Frau zu suchen …«
»Die Fotos, die man uns geliefert hat, sind zu alt. Sie wissen ja, wie das ist, sobald ein Mensch in eine andere Umgebung kommt … Um es deutlich zu sagen: Menschen, die vom Osten in den Westen ziehen, verändern ihr Aussehen sehr schnell. Das ist keine spezifisch ostdeutsche Erscheinung. Das ist immer so, wenn jemand in eine andere Welt geht.«
In diesem Land konnten doch keine Menschen leben, ohne dass sie irgendwelche Spuren hinterließen. »Was hat denn die Untersuchung des Hauses ergeben?«
»Wir haben DNA -Spuren Ihres Sohnes gefunden. Vor allem in dem Verlies. Das sind die einzigen, die wir zuordnen konnten. Natürlich gibt es auch andere Spuren. Sie müssen von diesem Tom, von der Frau aus dem Osten und von ihrem Sohn sein. Aber wir haben keine Vergleichsspuren. Von dieser Lore nicht und von ihrem Sohn Kevin auch nicht. In Chemnitz wurden keine aufgenommen. Warum auch?«
Marie dachte an Johann. Wie lange mochte er in der Gewalt des Freundes gewesen sein? Ob er schon tot war, als der Freund sich mit ihr getroffen hatte?
»Was glauben Sie? Ist mein Kind noch am Leben?«
Fürbringer ließ sich Zeit; er schaute ins Leere. »Das ist schwierig. Aber Sie haben das Recht auf eine Antwort, Frau Lieser. Nach allen Erfahrungswerten ist ihr Kind tot. Aber wir haben Johanns Leiche bis jetzt nicht gefunden.«
»Und Sie meinen, das ist ein gutes Zeichen?« Marie wusste selbst, dass ihre Frage naiv war.
»Nein, Frau Lieser, das ist es nicht. Wir dürfen uns da nichts vormachen.« Er sprach jetzt zu ihr wie ein alter Hausarzt. Marie fand, dass dieser Ton Fürbringer nicht zustand.
»Wie kommen Sie denn darauf, dass mein Kind tot ist? Sie sagen doch selbst, dass Sie nichts in der Hand haben. Gar nichts.« Sie war jetzt sehr erregt – obwohl Fürbringer ja nur versucht hatte, sie zur Vernunft zu bringen.
Der Kommissar blieb gelassen. Sicher hatte er solche Situationen schon öfter erlebt. »Wir haben die DNA -Spuren miteinander verglichen. Der kleine Kevin und Ihr Sohn, Frau Lieser, das sind zwei verschiedene Jungen. Sie sollten also nicht auf den Gedanken kommen, dass …«
Marie unterbrach ihn. »Darauf komme ich nicht. Halten Sie mich nicht für blöd!«
Fürbringer hatte recht, das spürte Marie. Aber Fürbringer wusste nicht alles.
Marie hatte ihm nicht erzählt, dass sie Lore den Tipp gegeben hatte, für Kevin über die Internetplattform Schüler-VZ neue Freunde zu suchen. Warum sie es verschwiegen hatte, wusste sie selbst nicht.
Sie wartete, bis Robert in der Schule war.
Dann ging sie in das Zimmer ihres Kindes, das seit einem Jahr unverändert geblieben war.
Sie startete Johanns PC .
Robert hatte einen eigenen Computer in seinem Arbeitszimmer. Der des Jungen war nicht mehr benutzt worden, seit er entführt worden war.
Marie kannte Johanns Passwort. Er hatte es ihr selbst verraten – kleine Jungen konnten nichts für sich behalten.
Sie wartete. Johanns Hintergrundbild erschien. Ludwig und Erhard. Seine beiden Dackel.
Jetzt erst wurde ihr klar, dass sie dieser PC tief in die Welt ihres verschwundenen Kindes führen würde. Sie hatte Angst davor. Doch es gab keinen anderen Weg.
Sie ging ins Internet und rief die Schüler- VZ -Seite auf.
Dann kam ihr die Idee, dass Johann, so praktisch wie er war, sicher irgendwo seinen Zugang zu dem Netzwerk gespeichert hatte, so dass sie es nur noch anklicken musste.
Als sie auf die Favoritenleiste ihres Sohnes ging, wunderte sie sich, wofür der Junge sich alles interessiert hatte.
Eine Dackel-Site. Gut, das war zu erwarten gewesen – bei seiner Liebe zu den Hunden.
YouTube natürlich. Und Facebook .
Diverse Spieleseiten.
Eine Pornoseite – das gab Marie allerdings einen Stich ins Herz. Aber heutzutage blieb das auch bei einem Elfjährigen, der sich im Netz auskannte, nicht aus. Dass ausgerechnet Robert, der
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