Aber Mutter weinet sehr: Psychothriller (German Edition)
kerzengerade. War sie von Kevin? Oder handelte es sich womöglich bloß um eine Mitteilung der Schüler-VZ -Verwaltung – weil Johann sein Konto so lange nicht aufgerufen hatte oder sie bemerkt hatten, dass der Junge sich nicht selbst gemeldet hatte?
Nein. Es war Kevin.
Die Nachricht war von ihm unterschrieben. Von Lores Kevin.
Hallo, Johann. Cool, dass Du Dich bei mir gemeldet hast. Ich weiß nicht, wer Du bist und wie Du auf mich gekommen bist und so. Aber ich freue mich trotzdem, von Dir zu hören. Mir geht es wie Dir. Ich bin auch erst seit ein paar Wochen in München, und ich habe hier an der Schule noch keinen Freund oder so gefunden. Findest Du nicht auch, dass die Schüler hier komisch sind? Vor allem in meiner Klasse, der 7 c. Aber das sind sie ja überall, wo man als Fremder hinkommt. Für mich ist München schon die zweite neue Station. An meiner letzten Schule war es genauso. Ich habe keinen Schulfreund gefunden. Deshalb war ich auch gar nicht so traurig darüber, dass wir da wegmussten. Mein Vater hat gesagt, wir haben keine Zukunft. Deshalb sind wir nach München gegangen. Wir warten alle darauf, dass es besser wird. Aber bisher merke ich nichts. Erzähl doch mal was über Dich! Vor allem: In welcher Klasse bist Du? Welche Lehrer hast Du? Bekommst Du gute Noten? Vielleicht kennen wir uns ja schon. Bis bald, Kevin.
Marie las den Brief mehrmals. Sie fühlte sich dabei eigenartig beschwingt. Als junges Mädchen hatte sie die ersten Liebesbriefe bekommen. Da war sie genauso aufgeregt gewesen. Sie hatte jedes Wort aufgesogen. Wie ein trockener Schwamm.
Er war also in der 7 c, und er hatte immer noch keine Freunde gefunden.
Marie antwortete sofort. Sie musste den Kontakt halten, musste Kevin etwas bieten, damit er sie nicht abhängte. Damit er Johann nicht abhängte.
Lieber Kevin. Toll, dass Du gleich geantwortet hast. Wäre super, wenn wir uns öfter schreiben würden. Man kann sich ja auch gegenseitig helfen, nicht wahr? Also: Ich bin zwölf Jahre. Mein Foto siehst du ja. Bin ich Dir noch nicht aufgefallen? Das hängt vielleicht damit zusammen, dass wir einen ganz anderen Stundenplan haben als ihr von der 7 c.
Zudem bin ich seit zwei Wochen krank. Ich werde auch so schnell nicht in die Schule kommen können. Ich bin in der 7 a. Wir haben meistens noch nachmittags Schule. Und unser Klassenlehrer ist ebenfalls krank. Deshalb schicken sie uns ständig zu einem anderen Ersatzlehrer. Es ist ein ziemliches Durcheinander. Meine Mutter sagt, sie schaut sich das nicht mehr lange an. Hoffentlich schickt sie mich nicht auf eine andere Schule. Dann würde ich nämlich auch noch den einzigen Freund verlieren, den ich habe – nämlich Dich. Gruß, Johann.
Das war hoch gepokert. Aber Marie musste Kevin ein paar Informationen liefern. Auch wenn sie alle aus der Luft gegriffen waren – Lores Sohn würde eine Weile damit beschäftigt sein.
Die Antwort kam erst am nächsten Tag.
Hi, Johann. Ist das cool, dass wir uns so getroffen haben. Hoffentlich lässt Deine Mutter dich auf unserer Schule! Ich wusste gar nicht, dass euer Lehrer ständig krank ist. Mann, wenn das so ist, wäre ich lieber in der 7 a. Wär doch toll, oder? Was hast Du für Hobbys? Meine sind: Hunde, Pferde, Fußball und Computerspiele. Jetzt muss ich Schluss machen. Meine Mutter ruft: Wir gehen Schuhe kaufen. Gähn. Kevin.
Marie fiel es nicht schwer, den Brief so zu beantworten, wie Johann ihn beantwortet hätte. Sie tat das ganz unbefangen, sie wollte Kevin in Sicherheit wiegen. Das gelang ihr wahrscheinlich am besten, indem sie sich so gab, wie Johann war.
Marie spürte einen leichten Schauder, als sie die Antwort in den Computer tippte.
Sie war Johann wieder so nahe wie seit langer Zeit nicht mehr. Es erfüllte sie mit einer seltsamen Ruhe, in die Haut ihres Sohnes zu schlüpfen. Eine Ruhe, die sie früher manchmal gespürt hatte, wenn sie mit Johann zusammen war, und die sie seit langer Zeit vermisst hatte.
Was wäre, wenn sie diesen Briefwechsel mit Kevin eine Weile betreiben könnte, fragte sie sich. Das würde ihr sicher guttun. Es war kein Ersatz für ihr verlorenes Kind, aber es brachte ihr Johann für kurze Zeit zurück.
Lieber Kevin, Hunde sind auch meine Lieblinge. Ich habe sogar zwei Boxer. Sie sind gar nicht so unfreundlich, wie man denkt, wenn man sie sieht. Wir wohnen nämlich am Stadtrand und haben einen großen Garten, in dem die beiden toben können. Die Boxer heißen Toto und Harry. Mein Vater hat sie so benannt, nach
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