Abgang ist allerwärts
nicht…«.
Ich erzählte von den beschämenden Ergebenheitsadressen, von dem organisierten Tumult, als einer der Auszuschließenden Verständnis für die opportunistische Haltung jener gehorsamen Mehrheit äußerte, da sie auf die eine oder andere Art ja fast alle vom Wohlwollen der Regierenden abhängig seien. Und ich fügte an Dresser gerichtet hinzu, dass sich wenigstens einer in einer Rede gegen den Ausschluss gewandt hatte, der prominente Wiesheim, was im Präsidium für einen Moment für Irritation gesorgt habe.
Als ich geendet hatte, zitterte meine Hand mit dem Rotweinglas. Die Erinnerung an diese traurige Farce hatte mich doch wieder aufgeregt.
Pierre nickte wie in Gedanken, als habe er etwas in der Art erwartet. Joachim schüttelte fassungslos den Kopf und Caroline hatte wie beruhigend unter dem Tisch ihre Hand auf meinen Schenkel gelegt. »Und wie geht ihr damit um?«, wollte Dresser wissen. Ich zuckte die Achseln. »Einige Kollegen verlassen das Paradies aller Werktätigen, andere gehen zur Tagesordnung über. Aber die große Mehrheit der Leute interessiert es überhaupt nicht. In den Städten nicht und auf dem Lande erst recht nicht. Die Arbeiter und Bauern im Staat sind an den Verfassern von Büchern nicht so sehr interessiert, wie es in den Medien manchmal den Anschein hat.«
»Und du?« Joachim sah mich gespannt an.
»Ich hab meine Hand gegen den Ausschluss gehoben. Genützt hat es nichts.« Joachim schien erleichtert und Pierre nickte wieder, als wolle er meine Einschätzung bestätigen.
»Es hat mich allerdings schon Überwindung gekostet, weil ich wusste, dass sie sich die paar Nein-Sager gut merken werden.
Besonders wohl war mir nicht dabei. Nach der Versammlung haben mir einige beim Hinausgehen verstohlen die Hand gedrückt, die Hand, mit der sie vorher für den Ausschluss gestimmt hatten. Na ja, was soll´s…« Ich zuckte wieder die Achseln.
Der Bericht hatte sich wie Mehltau über den ganzen Abend gelegt, und auch der reichliche Rotwein konnte die Stimmung nicht wesentlich aufhellen. Lange nach Mitternacht verabschiedeten Caroline und ich mich, und ich war froh, im elterlichen Hause Carolines in meinem Gästebett die Augen schließen zu können, um kurz darauf in einen tiefen Schlaf zu fallen.
Die Tage zwischen Institutsbibliothek, Kino, Theater, Restaurantbesuchen und Treffen mit Freunden vergingen wie im Fluge, die Nächte ebenfalls. Während Carolines Eltern im großen Kaminzimmer des Erdgeschosses vor dem Fernsehapparat saßen und sich ausgedachte Geschichten ansahen, spielte sich in Carolines Zimmer das wirkliche Leben ab, in dem wir unsere eigenen Hauptdarsteller waren: Wir lagen im Bett, oder auch auf dem Teppich, tranken Bourbon, schliefen miteinander und rauchten schwarzen Tabak, davor und danach. In diesen gemeinsamen Nächten, übernahm Caroline stets die Regie. Sie ging viel lockerer und selbstverständlicher mit dem Sex um als ich, und ich musste mir eingestehen, dass ich als Liebhaber wohl keine besonders aufregende Figur abgab. Und das bei dieser Frau, auf die sich sofort die Aufmerksamkeit aller Männer richtete, nicht nur die von Joachim und Dresser. Was fand Caroline an mir? War ich für sie so etwas wie ein Exot aus dem östlichen Andersland? Ein bunter Vogel in ihrem grauen Juristenalltag? Auf jeden Fall schmeichelte es meinem Ego. Dennoch: Ich erlebte dieses wirkliche Leben jenseits der Grenze eher wie ein Filmszenarium, in dem ich eine höchst ungewöhnliche, mir sonst eher fremde Rolle spielte, und es hätte mich nicht gewundert, wenn irgendwann eine Stimme laut Cut gerufen hätte.
Als ich mich am letzten Abend von Carolines Eltern verabschiedet und mich für die Gastfreundschaft bedankt hatte, fragte ihre Mutter scheinbar unbefangen, was mich denn in den Osten zurückzöge, ihr Haus sei groß genug, ich könnte fürs erste hier wohnen und Arbeit würde doch einer wie ich auch im Westen sofort finden. Ich sagte ihr nicht, dass ich in dieser Beziehung erhebliche Zweifel hätte, ich erwiderte nur, dass meine Arbeit und auch mein Publikum da drüben wären, und ich ja auch ein halbfertiges großes Haus auf dem Lande hätte, das auf mich warten würde. Plötzlich fragte sie misstrauisch, ob ich in der Partei wäre. Meine Antwort verschlug ihr die Sprache, sie sah mich fassungslos an, denn ich sagte nur kurz: »Im Moment nicht.«
Nach zehn Tagen Ausnahmezustand kehrte ich wieder zum Alltag in mein Leben zwischen Stadt und Land diesseits der Mauer zurück.
IX.
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