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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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wollte mich nicht lange in den engen Räumen des Plattenbaus aufhalten. Nach den aufregenden Tagen auf der anderen Seite Berlins brauchte ich Abstand, ich musste wieder zu mir selbst und zu meiner Arbeit kommen. Und die Ruhe, die ich dazu brauchte, konnte ich nicht hier finden, sondern nur weitab von dieser zerbrochenen Stadt. Das Dorf war ungeteilt, der Unterschied in der Gegend dort begann erst nach zehn Kilometern, an der Grenze zu Polen. Auf dem Wege kaufte ich noch einige Kübel blendend weißer Acrylfarbe ein, für einen Außenanstrich der neu verputzten Fachwerkquadrate, der das Haus in der Landschaft weit sichtbar machen würde. Die innere Unruhe wich mehr und mehr, je näher ich dem Dorf kam. Als ich an der Kneipe vorbeifuhr, winkte mir Erwin zu und deutete mit einer Geste auf den Eingang. Ich nickte zustimmend, parkte das Auto vor meinem Haus und lief die hundert Meter zurück zum Eingang mit der Bierquelle.
    Drinnen traf ich die an, die fast immer hier zu finden waren: den Traktorfahrer Joneleit, Gottfried den Maurer, Norbert, der trotz aller ärztlichen Drohungen wieder vor seinem Bierglas saß, Guntram, von dem ich nur wusste, dass er vor ein paar Jahren aus Niedersachsen hierher übergesiedelt war und jetzt mit Rudi zusammen im Schweinestall arbeitete und den alten Erwin. Heute saß sogar der weißhaarige Ernst-August, etwas abseits von den anderen, vor seinem Bierglas, mit so geradem Rücken, als wäre seine Jacke an der Stuhllehne festgenagelt. Über ihn erzählten sie sich im Dorf die seltsamsten Geschichten, von denen auch ich noch erfahren sollte. Erwin winkte mich an seinen Tisch, er durfte nicht oft in die Kneipe, weil das seine Alte nicht zuließ, aber heute gab es einen besonderen Anlass, denn Erwins Neffe Eberhard war nach vielen Wochen mal wieder richtig nach Hause gekommen, nach Hause in dieses kleine Dorf, wo er aufgewachsen war als Sohn eines ehemaligen Saisonarbeiters aus dem Schlesischen, der in den dreißiger Jahren hier an der Tochter des Tischlers hängen geblieben war, wo er dann auch in die kleine Zwergschule gegangen war. Wo er Tischler gelernt hatte, wie sein Großvater und schon früh die schwarze Susanne geheiratet hatte, hinter der alle Jungen her waren, die aber ihn genommen hatte, weil die Liebe eben hinfiel, wo man es nicht vermutete. Eberhard war mit Susanne schließlich in die zementgraue Stadt an der Oder gezogen, weil sie dort auf dem Bau besser zahlten, als anderswo. Jetzt wohnte er dort schon acht Jahre, aber so richtig zu Hause war er immer noch hier, und seit einigen Monaten war er sogar etwas Besonderes im Dorf, jedenfalls taten sie alle so oder wenigstens fast alle. Dabei saß Eberhard mit seinem Onkel Erwin und Gottfried und den anderen wie immer in de Kneip ´ und trank sein Bier. Dass an ihm plötzlich was Besonderes sein sollte, kam nur durch die anderen. Das Gerücht hatte es ja schon länger gegeben, aber so richtig dran glauben wollte keiner.
    Und dann hatte es sich doch bewahrheitet: »Der Eberhard baut drüben, im Westen Häuser«, hieß es, »und der Betrieb an der Oder zahlt ihm für die Arbeit viel mehr als gewöhnlich, sogar etwas in West.« Das hatten die Verwandten schnell im Dorf herumerzählt. Zum einen, weil sie stolz waren, zum anderen, weil sie wussten, dass sie einige sicher darum beneideten.
    Manche sprachen von ungeheurem Glück, nur die Frau des alten Lehrers fand es irgendwie ungerecht, denn ihre Söhne hatten studiert und was verdienten die heute? Nicht einmal die Hälfte von dem, was der Eberhard jetzt nach Hause brachte, und der hatte mit Mühe die acht Klassen geschafft und eigentlich nur mit der Nachhilfe ihres Mannes.
    »Die geben ihm nur so viel Geld, damit der immer wieder zurückfindet«, hatte der alte Onkel Erwin orakelt und dann grinsend hinzugefügt: »Bei seinem Vater liegt ihm das Wandern über die Jrenzen ja im Blut.« Eberhard hatte geduldig zugehört, er war von dieser ganzen Aufregung wenig berührt. Er musste da drüben in der kleinen Stadt bei Stuttgart schneller und länger arbeiten als hierzulande. Er hauste mit seinen Kumpels in barackenähnlichen Unterkünften, farbigen Containern mit kleinen Fensterluken, und er musste an dem wenigen Westgeld für die tägliche Verpflegung sparen, wenn er drüben für zu Hause etwas einkaufen wollte.
    Da blieben dann oft nur Minutensuppen aus dem Plastikbecher, Konserven aus dem Billigangebot, dazu mitgebrachte Wurst vom Hausgeschlachteten und nach Feierabend zollfreier Schnaps von

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