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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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der Grenze und Dosenbier aus dem Billigsupermarkt. Und das bei mehr als zehn Stunden Arbeit täglich. Eberhard hatte mir das alles mit leiser Stimme erzählt, weil es die anderen offensichtlich nicht hören wollten, sie waren an anderen Dingen interessiert.
    Zum Beispiel, dass er ja immer vier Wochen ohne Frau lebte. Das war dann auch das Thema heute am Tisch, das ohne Frauen .
    »Alles bloß Einbildung, wir waren im Krieg und länger als vier Wochen.« Gottfried winkte ab und zog an seinem Fünfundzwanzig-Pfennig-Stumpen.
    »Da drüben gibt´s ja auch noch Nutten…«, warf Onkel Erwin ein und fuhr mit lauter Stimme fort: »Also damals in Stettin, da gab´s so eine Rothaarige, die geile Galina, die hatte solche…« Er hielt die Hände einen halben Meter von seiner Brust entfernt hoch. »Ja, ja, wir wissen, die konnte mit Dreien gleichzeitig und von allen Seiten« Gottfried winkte ab. »Lass gut sein, Erwin«. Niemand wollte noch einmal die alten Geschichten von gestern hören. Was ging sie Stettin an, das heute jenseits der Grenze lag und inzwischen sowieso ganz anders hieß. Sie wollten neue Geschichten hören, welche von heute, und die wusste Eberhard. »Na ja«, fing der zögernd an, »es gibt da schon welche, in Stuttgart hat mich sogar mal eine angesprochen, an ´nem Sonntag.«
    »Na und?«, fiel ihm sein Onkel Erwin ins Wort. »Wieviel? Das musst du immer zuerst fragen.« Ja, sie sollten in der Kneipe ruhig hören, dass er Beschied wusste, und wenn sie es seiner Alten steckten, umso besser, der konnte man nicht oft genug sagen, dass er es mal faustdick hinter den Ohren hatte, bevor er bei ihr gelandet war.
    »Fünfzig Mark, West!« Eberhard streckte die Finger seiner rechten Hand aus. »Fünfzig Mark, und das ist billig, haben mir die Kumpels von drüben gesagt.« Maurer Gottfried schüttelte wortlos den Kopf. Wahrscheinlich dachte er, dass das ein ganzes Wochenende Feierabendarbeit wäre und so viel für fünf Minuten oder so, das würde für ihn nicht infrage kommen, mit seinen Zweiundsechzig sowieso nicht, und von der Moral und seiner Frau erst gar nicht zu reden.
    »Na und? Hast du?« Eberhards Onkel wollte es jetzt wissen. »Einmal ist keinmal und Susanne muss es ja nicht erfahren.«
    Eberhard schüttelte den Kopf. »Nicht mit mir. Fünfzig Mark, in West! Weißt du, was du dafür kriegst? Drei Quarzuhren!« Er deutete auf sein Handgelenk, an dem er seine im Dorf schon viel bewunderte wuchtige Uhr mit dem glänzenden Metallarmband trug, die die Zeit, den Tag und den Monat anzeigte.
    »Ja, leck´ mich…!« Erwin schob seine blaue Leinenmütze ins Genick. »Also so jesehen, hast du Recht, Junge.« Ich konnte mir vorstellen, was in Erwins Kopf vorging. Für so eine Quarzuhr musste man hierzulande in der Kreisstadt 250 Mark hinlegen. Und das dann noch mal drei. Nein, das wäre Verschwendung, eine regelrechte Sünde, das sah sogar der alte Milchfahrer ein.
    »Warst du nicht gerade erst in Westberlin? Da gibt´s doch sicher auch solche? « Mir wäre es lieber gewesen, Gottfried hätte das mit meinem Ausflug über die Mauer für sich behalten, denn ich war nicht in der Stimmung, jetzt darüber in der Kneipe zu sprechen.
    Allerdings schien es keinen sonderlich zu erstaunen, ich war Künstler, Schriftsteller, und die durften ja sowieso mehr als andere. Das mit Eberhard, das war was Besonderes. Nur Erwin warf mir einen interessierten Blick zu und sagte dann grinsend: »Ich denke mal, dass Nutten nich unbedingt dein Ding sind. So einer wie du kriegt die Weiber sicher umsonst, auch da drüben«. Ich war nicht sicher, ob dies meine Anerkennung im Dorf erhöhen würde, da öffnete sich die Tür der Kneipe mit Schwung. Der sich da durch den Türrahmen zwängte, war Reiner, den sie mit seinen knapp zwei Metern nur den Langen nannten. Er klopfte zur Begrüßung mit den Knöcheln auf den Tisch, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich dann zu ihnen. Reiner war zwar zwei Jahre jünger als Eberhard, aber befreundet waren sie schon gewesen, als sie noch alle in einem Klassenraum der Zwergschule gesessen hatten.
    Aufgewachsen war Reiner am Ende des Dorfes, da, wo 1946 noch das Bahnhofshaus stand, auch als sie die Schienen kurz nach dem Krieg bereits abgebaut und als Reparation in Richtung Sowjetunion transportiert hatten. Das hatte ich von Reiners Mutter erfahren, die noch immer dort wohnte, wo früher einmal die Züge nach Stettin gehalten hatten. Nur ein alter Prellbock und ein Signal, das auf Halt stand, waren aus

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