Abgang ist allerwärts
gönnen, sie erklärte mich klipp und klar zum Täter. Aber im Grunde war es gleich: Ich wusste, dass ich – wie schon andere vor mir – schnell wieder in Vergessenheit geraten würde, ob als Opfer oder als Täter.
Enttäuscht, aber auch wütend, fuhr ich zurück zu meinem fast fertigen Haus. Nein, ich konnte das nicht unwidersprochen hinnehmen, es gab eine Institution, wo alle unsichtbaren Kultur-Fäden zusammenliefen. Dort würde ich eine Erklärung für meinen plötzlichen Absturz verlangen. Als ich an der Kneipe vorbeifuhr, sah ich, dass die Tür offen stand. Es war wie eine Einladung. Wenn ich zwischen den Männern saß, die vom Feld oder aus dem Stall kamen, relativierten sich die Probleme, sie schrumpften auf ein Normalmaß. Und sie würden mich dort in der Kneipe nicht attackieren wie Angélique. Dort könnte ich in Ruhe vor mich hin leiden. Das würde mir jetzt gut tun. Die Stammtrinker hatten sich heute alle um einen Tisch versammelt, während Rudi, der sonst immer in ihrer Mitte zu finden war, allein an einem Tisch saß. Er trug seinen guten Anzug, ein weißes Oberhemd, sogar seine künstlichen Zähne leuchteten aus dem Mund und das kam selten vor.
»Die drücken bloß, sind eben nich gewachsen«, hatte er mir einmal erklärt. Er sah mich mit von der Müdigkeit und vom Schnaps geröteten Augen an und sagte statt einer Begrüßung immer wieder: »Undank is der Welt Lohn. Ich hätt´ es wissen müssen: Undank is der Welt Lohn…« Wenn Rudi philosophierte, dachte ich sofort, stand es nicht gut um ihn, denn Reden war sonst nicht seine Sache. »Davon wird kein Schwein satt«, hatte er gesagt, und er musste es wissen, schließlich war er der Schweinemeister in der Genossenschaft. Auf meine Frage, ob ich mich zu ihm setzen dürfe, deutete er stumm mit einer eleganten Handbewegung auf den Stuhl ihm gegenüber.
Auf Rudi hatte ich mich immer verlassen können, er hatte alles für das Haus organisiert, wenn ich einmal nicht im Dorf war. Und wenn die Fast-Ruine inzwischen wieder bewohnbar war, hatte ich das auch ihm zu verdanken, denn eines war an ihm besonders bemerkenswert: Es gab für Rudolf nichts, was nicht ging. Und das war in dem Land der Bedenkenträger von unschätzbarem Wert.
Vielleicht lag das daran, wie er aufgewachsen war. Er kam aus einem Arme-Leute-Haus, acht Kinder, der Vater war Schlosser auf dem Gut gewesen, nur selten nüchtern. Mit achtundvierzig hatte der Alkohol ihn geholt. Aber Fallen konnte der stellen, fürs Wild, das hatte mir Rudi einmal erzählt. Und er hatte dieses Talent vom Vater geerbt. Deshalb gab es auch nach dem Tod des Vaters noch manchmal ein Stück Fleisch im Topf, wenn andere im Dorf nur Kartoffeln und Kohl kochten.
Als im Frühjahr 1945 die Russen über die Oder kamen – die hatten Hunger wie alle –, hatte der dreizehnjährige Rudolf ihnen gezeigt, wo die Wildwechsel waren und dafür durfte er mit in den Wald. Dabei war immer etwas abgefallen, für ihn und die vaterlose Familie. Aber im Dorf hatten sie ihn deshalb mit Misstrauen betrachtet, den Russenfreund.
Zu viele noch waren braun oder zumindest schwarz gewesen, wie der Graf, da brauchte es nicht viel, um als Roter zu gelten.
»Lieber hungern, als sich mit denen einlassen«, hieß die eiserne Regel. Rudi hatte mit den Soldaten gesprochen, ein paar Brocken Russisch hatte er bald gelernt. Er war sogar hinter den Stacheldrahtzaun gegangen, den sie um den gräflichen Park und das neue Schloss gezogen hatten, weil sich in dem Herrenhaus für einige Monate die sowjetische Kommandantur befand. Sie hatten es ihm zu verdanken, dass alle im Dorf Holz für den Winter bekamen und sogar die Kohlenvorräte aus dem Schloss verteilt wurden. Der Schlosspark war auch heute noch, Jahrzehnte danach, mit dem russischen Stacheldraht eingezäunt, der daran erinnerte, dass selbst hier in diesem vergessenen Winkel das Tausendjährige Reich sichtbar ein jähes Ende gefunden hatte.
Aber die Soldaten mit der fremd und hart klingenden Sprache waren eines Tages weiter gezogen. Nur das Misstrauen und das Vorurteil blieben im Dorf. Das hatte Rudolf bald sehr deutlich zu spüren bekommen. Also hatte er sich entschlossen, in die Partei der Kommunisten zu gehen, die sich nun Sozialistische Einheitspartei nannte. Dort musste man anders denken. Die Partei hatte sich die deutsch-sowjetische Freundschaft ja auf ihre Fahnen geschrieben. Aber die meisten sprachen nur anders, das hatte Rudi schon nach kurzer Zeit bemerkt. Er war wieder wie ein Fremder
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