Abgang ist allerwärts
unter ihnen gewesen, obwohl er alles getan hatte, was sie von ihm verlangten. Bald hatte Rudi eine eigene Familie und die meisten ungeliebten Funktionen, die es im Dorf gab.
»Dem kannst du das Hemd vom Hintern ziehen, der sagt noch Dankeschön.«
Er meldete sich freiwillig zu Arbeitseinsätzen und Lehrgängen und war freiwilliger Helfer der Grenztruppen – wer eine Stunde ostwärts lief, war schon in Polen. – Sogar ins Jagdkollektiv durfte er, obwohl allen die Wilderervergangenheit Rudolfs bekannt war. Aber die Jagd hatten sie ihm jetzt auch erst einmal gestrichen.
»Wenn´s keiner macht, macht´s Rudi.« Das war zum geflügelten Wort im Dorf geworden und niemanden interessierte es, dass er das alles nur tat, um als Gleicher unter Gleichen zu gelten.
Wenn andere nach einer langen Nacht in der Kneipe am nächsten Morgen die Schicht verschliefen, stand Rudi allein im Stall und begann mit der Arbeit. Weil hin und wieder ein paar Säcke mit Viehfutter aus dem genossenschaftlichen Stall auf rätselhafte Weise verschwanden, hielt Rudi hinterm Haus nur ein paar Hühner, um gar nicht erst in Verdacht zu geraten. Aber er bemühte sich von Anfang an vergeblich, das Vorurteil gegen ihn hielt sich wie der Schwamm im Haus. Und da er auch der einzige war, der sich noch nach Jahrzehnten um das Ehrenmal für die gefallenen sowjetischen Soldaten kümmerte, das gleich nach dem Krieg von den Siegern mitten in den Schlosspark gebaut worden war, sahen sie ihn mit heimlicher Verachtung an. Auch die, die das Sagen hatten in der Gemeinde und in der Genossenschaft, schließlich hatten sich die Zeiten geändert, und der Krieg war seit mehr als drei Jahrzehnten vorbei.
Ja, der Rudolf war zwar ganz brauchbar, aber zu sich nach Hause lud man so einen nicht ein. Man war zwar in derselben Partei, aber trotzdem gab es – Gott sei Dank – noch Unterschiede. Sicher, die Ferkel aus seinem Stall waren die kräftigsten und brachten das meiste Geld für die Genossenschaft, aber dafür hatten sie ihn ja auch zum Schweinemeister gemacht, mehr konnte so einer nicht verlangen. In der letzten Zeit hatte Rudi zu oft für zwei arbeiten müssen, zu oft schlief der eine oder der andere seinen Rausch aus, statt neben ihm im Stall zu stehen, auch Guntram und Norbert hatten dazu gehört. Da war es kein Wunder, dass er die Arbeit, die dadurch liegen blieb, allein nicht immer schaffte. Rudolf hatte aber nie etwas gesagt, weil er keinen anschwärzen wollte, wie er das mir gegenüber genannt hatte. Andere dachten nicht so wie er und hatten es denen da oben in der Leitung der Genossenschaft bald hinterbracht, dass der Rudolf offensichtlich mit so einem Posten überfordert sei. Und jetzt saß er mir gegenüber, sonntagsfein, und schüttelte immer wieder verständnislos den Kopf mit dem sorgfältig gescheitelten grauen Haar.
»Da schindest du dich dein Leben lang, machst alles, was sie von dir verlangen, bist noch für den letzten Dreck gut genug gewesen und jetzt? Hab ich meine Arbeit vielleicht nich gemacht und für zwei! Den besten Stall hab ich! – Nein.« Er schüttelt wieder den Kopf: »Nein, ich hab ihn ja nich mehr, jetzt kriegt ihn ein anderer. Ich bin nichts mehr wert, ich kann gehen! So ist das! Aber warum erzähl ich dir das alles? Komm, lass uns einen saufen! Sonst schlucken die andern hier, heute bin ich mal dran! Bin ich vielleicht kein Mensch!«
Sein Kopf fiel nach vorn und berührte fast die Tischplatte. Ich starrte auf seinen weißen Hemdkragen, der innen vom Schweiß einen dunklen Rand hatte. Dann hob Rudolf langsam wieder den Kopf bis zur Höhe seines Bierglases, zog ein großkariertes Taschentuch hervor, wischte sich die Augen und schnäuzte sich dann, als wolle er einen Schlusspunkt unter sein Klagelied setzen. Am anderen Tisch nahm niemand Notiz davon. Warum auch? Besoffen zu sein, war nichts Besonderes hier in de Kneip ´, und diesmal war es eben der Rudi. Den Grund dafür hatten sie bestimmt auch schon erfahren. Aber so ist das eben: Heute oben, morgen unten und Abgang ist allerwärts.
XV.
A m Nachbartisch sorgte heute etwas ganz anderes für Aufregung. Die alte Maria Reimann, die Gärtnerswitwe, war nach sechs Wochen wieder ins Dorf zurückgekehrt. Das hatte niemand für möglich gehalten. Die Frau des Gärtners hatte es hier nie leicht gehabt. Sie war die einzige Katholische unter all den Protestanten und denen, die inzwischen ohne Gott lebten. Hierhergekommen war sie mit ihrem Mann kurz nach dem Krieg aus der Bukowina, aber
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