Abgang ist allerwärts
wissend. Sie kannte das zur Genüge: Nach dem alkoholisch gestillten großen Durst am Wochenende, kam an jedem Montag neben dem Katzenjammer der harmlose große Wasserdurst. Ich öffnete eine der Flaschen schon im Laden und trank sie fast leer. Dann klemmte ich die anderen unter den Arm und verließ das kleine Geschäft mit dem bunt gemischten Angebot. Draußen stand noch immer Paul auf seine Krücke gestützt, zwischen seinen Beinen hatte er die bekannte braune Ledertasche abgestellt. Er war jetzt allein und schien auf mich zu warten.
»Ich wollte dich in einer bestimmten Angelegenheit um einen kompetenten Rat bitten…« Er sah mich etwas unsicher an. Also blieb ich stehen und nickte ihm aufmunternd zu. Die Art, wie Paul sich ausdrückte, die auffällig gesuchte Formulierung, machte mich hellhörig.
»Wärest du so freundlich, mir – sagen wir einmal für eine halbe Stunde – dein Ohr zu leihen? Du kannst doch sehr gut mit dem Wort umgehen, und es handelt sich um etwas außerordentlich Wichtiges für mich, aber streng vertraulich.«
Er sah sich vorsichtig nach allen Seiten um, als fürchtete er, irgendjemand könne Zeuge unseres Gesprächs werden.
Ich erklärte mich einverstanden, ihn am Nachmittag zu besuchen. Paul nickte so, als hätte er keine andere Antwort erwartet, hob seine Tasche mit der Tagesration auf, so dass der Inhalt laut klirrte und hinkte dann langsam in Richtung Dorfstraße.
Er wohnte schon lange im alten Schlossbau, auch als er noch seine Frau hatte. Platz war inzwischen genug in dem großen, ehemals gelb verputzten Gebäude, das eher in eine mediterrane Landschaft als hier nach Vorpommern gepasst hätte, und das nun wie viele Bauten im Dorf immer mehr verfiel.
Nach dem Kriegsende, als die gräfliche Familie bereits in den Westen geflohen war, wurden auch die herrschaftlichen Zimmer des alten Herrenhauses vollgestopft mit Flüchtlingen von jenseits der Oder . Sie hatten sich angewöhnt, diesen Terminus zu benutzen, um nicht die Namen ihrer verlorenen Heimatgegenden nennen zu müssen. Einige hatten fünfzig Kilometer hinter sich, andere fast fünfhundert. Der eine oder andere blieb hängen im Dorf, die meisten aber waren weiter in Richtung Westen gezogen: Die großen Flüsse hatten die Marksteine gebildet: Oder, Elbe, Rhein. Noch heute wussten sie im Dorf genau, wer bereits unter dem Grafen hier gelebt hatte und wer dazu gekommen war. Pauls Familie gehörte zu den Angestammten, sein Vater war seinerzeit für die Jagdhunde des Grafen zuständig gewesen. Noch lange wurde seine Meinung eingeholt, wenn einer sich einen Hund für die Jagd kaufen wollte.
Da hatte Pauls Vater am Schluss die Achtzig schon überschritten.
Paul war erst in das alte Gebäude gezogen, als es schon fast leer stand. Vier Familien hatten sich da noch die zahlreichen Räume geteilt. Heute waren nur noch er und die Familie des Traktorfahrers Joneleit übrig geblieben.
Als ich am Nachmittag die gewundene Treppe mit dem kunstvoll gedrechselten Geländer nach oben stieg, hörte ich aus der Parterrewohnung Joneleits laute Stimme. Was er brüllte, war nicht zu verstehen, aber er musste mit der Faust auf den Tisch gehauen haben, denn ich hörte, wie Glas klirrte, seine Frau schrie mit schriller Stimme, die in helles Weinen überging. Dann hörte ich zwei, drei Mal ein klatschendes Geräusch und Joneleits Sohn heulte laut auf. Kurz darauf scharrte ein Stuhl oder ein Hocker über den Steinfußboden, etwas Gläsernes zerplatzte mit lautem Knall an der Wohnungstür, danach herrschte Stille. Dann hörte ich schlurfende Schritte, die Wohnungstür Joneleits wurde aufgerissen und der Traktorfahrer torkelte stark betrunken in den halbdunklen Treppenflur. Er verließ, laut ein Partisanenlied singend, das sonst so stille Haus, das einmal das Alte Schloss gewesen war.
Während der kurzen Szene, die nicht länger als eine Minute gedauert hatte, war ich regungslos auf dem oberen Treppenabsatz stehen geblieben. Und unwillkürlich hatte ich mich gefragt, wie die lauten Streitereien und die Gewalt in Joneleits Familie wohl auf Paul wirken mussten, erinnerten sie ihn doch sicher an seine eigene, im Alkohol ersoffene Beziehung. Vielleicht war er ganz froh, wieder Junggeselle zu sein. Ich klopfte an die bunt verglaste Eingangstür im ersten Stock. Von drinnen kam ein zackig militärisches: »Ja! Herein!« Ich öffnete die Tür und stand sofort in einem riesigen rechteckigen Raum mit vergilbten Küchenmöbeln. Auf den vom Rauch bräunlich
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