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Abgang ist allerwärts

Abgang ist allerwärts

Titel: Abgang ist allerwärts Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: R Kuhnert
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wissen, kann man ja verstehen. Als sie nach meinem Beruf gefragt hat, hab ich Frührentner gesagt und als sie wissen wollte, was ich vorher gemacht hätte, wollte sie es erst gar nicht glauben.
    Sie musste dann auch ziemlich schnell weg. Ihre Freundin würde im Wagen warten, hat sie gesagt. Und als ich ihr ganz lässig die Nummer des Autokennzeichens ihrer Freundin genannt und eine Personenbeschreibung hinzugefügt habe, war sie sprachlos. Also beeindruckt hab ich sie schon, aber irgendwas hat trotzdem nicht gestimmt, ich meine zwischen ihr und mir, wir haben nicht zusammenharmoniert. Und dann drei Kinder, das ist nichts mehr für mich. Und die waren nicht mal vom selben Vater. Wenn ich ehrlich sein soll, war sie mir sowieso nicht so richtig sympathisch, sowas gibt´s ja. Noch ganz schön flott , nee, nee, ich brauch´ kein Zirkuspferd, ich brauch´ jemand, der sich ums Essen und um die Wäsche kümmert. Das andere, du verstehst schon, ist nich mehr so wichtig. Ich hab aber noch zwei andere in petto.« Er deutete auf die Zeitungsschnipsel. Aber diesmal wolle er versuchen, schon vorher einiges herauszukriegen, gleich beim Briefwechsel, deshalb habe er einiges notiert, was seiner Meinung nach hineingehöre in so einen Brief, und da wolle er von mir den einen oder anderen Rat, denn ich wüsste doch sicher Bescheid, wie man sowas schreibt, dass es Eindruck macht. Ich solle ihn aber nicht falsch verstehen, er wolle mir natürlich keine Vorschriften machen. Mit diesen Worten deutete er auf die Zielscheiben, die vor mir auf dem Küchentisch mit der brüchigen Wachstuchdecke lagen. Auf die Rückseite der einen hatte er Freundlichkeiten und positive Eigenschaften geschrieben, die in Bezug auf Paul – soweit ich ihn kannte – zwar nicht ausgesprochen falsch waren, in dieser Anhäufung aber ein Bild vermittelten, das dem vor mir sitzenden Mann wenig ähnelte.
    Auf der Rückseite der zweiten Zielscheibe standen präzise Fragen, wie auf einem Personalbogen, dazu einige Formulierungsversuche. Da war sie wieder, diese so seltsam geschraubte Sprache, die in ihrer Kompliziertheit so wenig zu Paul passte und erst recht nicht zu dem Telegrammstil der Kontaktanzeigen. Ratlos blickte ich von einem Stück Papier zum anderen, während Paul mich aufmerksam beobachtete. Das verwaschene Blau seiner Augen zeigte deutlich, dass er den größten Teil seiner Tagesration bereits geschluckt hatte.
    »Das mit dem Zusammenharmonieren könnte man vielleicht mit reinbringen, was meinst du?«
    Ich wusste nicht, was ich ihm antworten sollte. Was ging mich Pauls Privatleben an? War das ein besonderer Vertrauensbeweis? Und wenn schon, warum sollte ich mir meinen Kopf ausgerechnet für ihn zerbrechen, den ehemaligen Angehörigen der Sicherheitsorgane ?
    Trotzdem ertappte ich mich dabei, wie ich im Stillen bereits Sätze formulierte, die ich für Erfolg versprechend hielt. Ein merkwürdiger Ehrgeiz trieb mich an. Ich nahm eine der Zielscheiben und begann auf der leeren Rückseite erste Sätze zu schreiben. Paul lehnte sich erleichtert zurück, als hätte er jemanden zu einem Geständnis überredet.
    »Bis zum Winter hätte ich die Sache gern erledigt, aber das sind ja noch zwölf Wochen.« Er zeigte auf einen Kalender an der Wand. Von der Zahlenreihe der Wochentage eingerahmt, metallisch glänzende MIG-Jagdflugzeuge in strahlend blauem Himmel. Am oberen Rand in Großbuchstaben: WAFFENDIENST – EHRENDIENST, sehr viel weiter unten AUGUST und die Jahreszahl. Plötzlich fiel mir ein, dass ich vielleicht nicht mehr erfahren würde, ob Pauls Suche erfolgreich verlaufen war. Zwölf Wochen waren eine lange Zeit. Und während ich auf den Kalender mit der verlogenen Behauptung starrte, begann ich in Gedanken auszurechnen, wie viele Flaschen Paul bis zum Beginn des Winters noch trinken würde, und ich kam auf eine erschreckend hohe Zahl.
    Und was, wenn es bis dahin nicht klappte mit einer neuen Beziehung? Und wer sagte denn, dass er danach wirklich mit der Tagesration aufhören würde?
    Und was, wenn nicht? Wie lange würde es dauern, bis die neue Frau herausfand, woher das wässrige Blau in Pauls Augen kam? Seine schleppende Stimme und seine Vergesslichkeit? Und wie lange würde es dauern, bis er wieder zuschlug? Und falls wirklich eine Frau auf das so schöngefärbte Bild Pauls hereinfiele, wäre ich dann nicht mitschuldig an dem vorhersehbaren Unglück?
    Unschlüssig schob ich die Zielscheibe zurück in die Tischmitte, und sah Paul an. Der versuchte meine

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